MALMOE

Spaltung im Schrebergarten

Gestörtes Störendes #21

Es ist ein Elend, aber ich muss schon wieder was zu Corona schreiben, da es das ist, was mich aktuell am meisten beschäftigt. Aber wie sooft beim Schreiben entwickeln sich dann doch Schleifen in andere, verwandte Themen. Was mir ja eigentlich große Sorgen macht, ist unsere Zukunft und wie wir uns weigern, uns ernsthaft mit ihr zu beschäftigen. Corona dynamisiert (evtl.: beschleunigt?) und intensiviert hier Dynamiken der Spaltung, Konfrontation und der Interessenslagen. Die Klimakrise wird sich diesbezüglich auch immer stärker bemerkbar machen – je mehr sie unleugbar wird.

Die Corona-Krise ist so was wie die Aufwärmübung für globale Krisen, die sich intensivieren werden. Das Ergebnis ist erschreckend. Statt grenzüberschreitender Solidarität erleben wir eine Renaissance der „vertrauten vier Wände“. Wir sind zurückgeworfen auf uns selbst und unsere engsten, oft familiären, Netzwerke; auf gesellschaftlicher Ebene zeigt sich hierzulande der österreichische Föderalismus so stark wie nie; auf allgemeinerer Ebene zeigt sich das nationalstaatliche Denken wie eh und je.
Konkurrenz, Instrumentalität und Zwang bzw. Herrschaft: Diese Prinzipien bestimmen unter den gegebenen Bedingungen das gesellschaftliche, zwischenmenschliche und individuelle Koordinatensystem, nach dem wir unsere Handlungen ausrichten.

Um unser Leben alltäglich führen zu können, müssen wir handlungsfähig sein. Dafür brauchen wir eine Verfügung über unsere Lebensbedingungen. Wir müssen planen, uns koordinieren und kooperieren können. In der Regel sind Bedingungen dann spürbar, wenn ein Problem auftaucht. Als Menschen stehen wir vor einer doppelten Möglichkeit: Können wir das Problem unter den gegebenen Bedingungen lösen oder müssen dafür die Bedingungen selbst (in Kooperation mit anderen) verändert werden? In der gegebenen Gesellschaft, die nicht das Wohl der Menschen ins Zentrum stellt, sondern die Profitmaximierung und Akkumulation von „Reichtum“, setzen wir ständig unsere Handlungsfähigkeit auf Kosten anderer durch. Meine (bedingte) Verfügung baut sogar auf dem Ausschluss anderer und ihrer Unterdrückung auf. Diese Handlungsfähigkeit nennen wir in der Kritischen Psychologie restriktiv. Demgegenüber gibt es die verallgemeinerte Handlungsfähigkeit, wo wir in Kooperation mit anderen die Bedingungen versuchen so zu verändern, dass sie potenziell für alle positiv und förderlich sind.

Ich habe schon öfters über Dynamiken von (Ab-)Spaltung und Identität geschrieben. Abspaltung und Projektion sind zentrale identitäre Mechanismen, die uns auch in der aktuellen Situation kontinuierlich begegnen. Das aktuelle Bekenntnis lautet: Bist Du geimpft oder nicht? Mein Facebookfeed ist voll von Leuten, die Impffotos posten oder von ihrem zweiten bzw. dritten schreiben und sich begeistert (teil-)öffentlich auf die „richtige“ Seite stellen. Dann gibt es andere, die zum Glück nicht in meinem Feed auftauchen, aber sehr wohl im Freundes- und Bekanntenkreis und z. B. von „Ausschluss“ oder „2G-Ideologie“ sprechen. Beide Seiten, die wir da jetzt in öffentlichen und privaten Debatten erleben, haben ihre Argumente und fühlen sich im Recht und von der anderen Seite bedroht. Die Booster-Fraktion, die ihr Gut-Sein beständig bekennt und „die anderen“ beschimpft, lächerlich macht, mit Anklagen, Aggressionen und Verachtung überhäuft, fühlt sich auf der moralisch guten und richtigen Seite, da es um Solidarität, den Schutz von anderen, die allgemeine Gesundheitsversorgung etc. geht.

Dieses Gefecht findet jedoch innerhalb des falschen Ganzen statt: „Wir“, im (noch) kapitalistischen Zentrum verimpfen schon die dritte Dosis, während in anderen Ländern teilweise noch nicht mal die erste verabreicht werden konnte. Das hat wieder mal strukturell-ökonomische Gründe, z. B. dass Pharmakonzerne, die für die Entwicklung der Impfstoffe Millionen an Förderungen kassiert haben, Milliarden an Gewinnen einstreifen wollen, da dies Aufgabe und Zweck von Unternehmen im Kapitalismus ist: Gewinnmaximierung jenseits moralischer Fragen.

Während wir uns also in unserem Schrebergarten darum streiten, wer Recht hat, braut sich anderswo, dort, wo „unsere“ dritten Impfdosen sein sollten, in Gestalt unvorhersehbarer Mutationen die nächste globale Gefahr zusammen.
Für Solidarität einzustehen und für diese zu kämpfen, kann das Potential verallgemeinerter Handlungsfähigkeit in sich bergen; sich allerdings nur über die Skeptiker:innen lustig zu machen und sich selbst auf der Seite des Guten zu wähnen, während man Teil der weltweit ungerechten Verteilung der Impfstoffe ist, ist nicht verallgemeinert emanzipatorisch, sondern restriktive Handlungsfähigkeit, da die eigene Absicherung auf der Unterdrückung und dem Ausschluss der Mehrheit der Menschen auf unserem Planeten fußt, die in der kapitalistischen Peripherie leben.
Es sollte mehr über diese Spaltung gesprochen werden, über die verkehrten Bedingungen, in denen wir unser Leben führen, über die Widersprüche, auf die wir stoßen, und wie wir versuchen, damit umzugehen. Stattdessen verrennen wir uns in identitären Kämpfen.Es müssen die Bedingungen ins Auge gefasst werden, die problematisches Handeln (im Sinne von restriktiver Handlungsfähigkeit) fördern und emanzipatorisches (im Sinne der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit) behindern oder unattraktiv erscheinen lassen. Wir müssen uns über das Nachwirken des Nationalsozialismus unterhalten, mit seinem Sozialdarwinismus, seinem Verständnis von „Natürlichkeit“, seiner Verachtung von „Schulmedizin“ und Wissenschaft; wir müssen über Landesfürsten und ihre Machtgelüste, über Wirtschaftslobbys, Medienstrukturen (Monopole, Financiers usw.) und vieles weitere sprechen, um die widersprüchlichen Bedingungen in den Blick zu bekommen und damit analysieren zu können, warum manche Handlungen aus der subjektiven Perspektive heraus „sinnvoll“ erscheinen. Wenn wir uns aber individualisierend auf „Corona-Leugner:innen“ konzentrieren, bleiben die Strukturen wieder außen vor.

Um den Bogen zum Anfang zu schließen: Wenn wir die Klimakrise auf dieselbe Weise angehen wie die Corona-Krise, wird es keine Gewinner:innen geben und schon gar keine richtige Seite. Dann haben wir alle verloren.
Daniel Sanin