MALMOE

Eine „weiße Enklave“ 
schottet sich ab

Seit 2001 unterhält Australien Flüchtlingscamps in umliegenden Inselstaaten. Ein Blick auf eine lange und unrühmliche Geschichte voller Rassismus und Isolationsfantasien

Im Januar dieses Jahres gab es hauptsächlich eine Geschichte, die es aus Australien weltweit in die Medien schaffte: Novak Đokovićs Kampf um ein Visum für die Australian Open. Der Tennisspieler war ohne Covid-Impfung eingereist, die zurzeit als Visa-Voraussetzung gilt, und wurde direkt von den Grenzbehörden in Haft genommen. Zwei Wochen lang haben Menschen weltweit verfolgt, wie Đokovićs Anwälte erst erfolgreich in Berufung gingen, um dann zu sehen, dass eine Woche später Đokovićs Visum vom Migrationsminister Alex Hawke persönlich annulliert wurde. Zwischen den Gerichtsterminen saß Novak im Carlton Park Hotel in Melbourne fest, vor dem sich internationale Medien und Fans versammelt hatten. Doch während diese ausgesprochene Strenge der australischen Behörden bei vielen Beobachtenden Verwunderung hervorrief, konnten sich andere, angesichts der medialen Aufmerksamkeit für Novaks Misere, nur ein zynisches Kopfschütteln abringen. Denn zugleich mit Đoković saßen 32 andere Häftlinge im Carlton Park Hotel, für die sich kaum jemand interessierte. Manche von ihnen werden seit neun Jahren von Australiens Border Force in Gefangenschaft gehalten, einzig und allein, weil sie Asyl angesucht haben. Dass sie überhaupt von den Inselcamps auf australischen Boden verbracht wurden, haben sie dem Umstand zu „verdanken“, dass sie alle medizinische Versorgung benötigen – die sie dann im Endeffekt trotzdem nicht bekommen. Stattdessen berichten sie von Folter, schlechter Hygiene, verschimmeltem Essen, Behördenwillkür, Angststörungen und Depressionen. Was ist da los in Down Under?

Neokoloniale Logiken

Seit Anfang der 1990er hat das Land schrittweise ein autoritäres und repressives Grenzregime aufgebaut, unterstützt und legitimiert durch rechte Hardliner*innen-Rhetorik. Obwohl sich Australien damit brüstet, eine hohe Anzahl von Konventionsflüchtlingen aufzunehmen, die vom UNHCR für ein Resettlement-Programm ausgesucht werden, greift es mit unglaublicher Härte gegen „irreguläre“ Ankömmlinge durch. Es hat alles getan, um solche Einwanderung zu delegitimieren, kriminalisieren und zu verhindern. Das ist angesichts der europäischen Grenzpolitik kein Alleinstellungsmerkmal, dennoch gibt es ein paar Besonderheiten, von denen europäische Rassist*innen nur träumen können. Seit 30 Jahren ist Australien das einzige Land, das per Gesetz eine obligatorische und zeitlich unbegrenzte Inhaftierung von all jenen vorsieht, die ohne gültiges Visum einreisen. Damit sind vor allem Menschen gemeint, die versuchen Australien mit dem Boot zu erreichen, meist von Indonesien aus. In abgelegenen Haftanstalten werden Geflüchtete vom Blick der Öffentlichkeit sowie von Rechtsbeistand, medizinischer Versorgung und sozialen Diensten abgeschottet.

Diese harte Grenzpolitik wurde 2001 weiter auf die Spitze getrieben. Angefeuert von einer rassistischen Hetzkampagne der 1997 von Pauline Hanson gegründeten ultrarechten Partei One Nation, ließen sich sowohl die Konservativen als auch die Labor Party auf eine Politik herab, die an rassistischen und neokolonialen Logiken kaum zu übertreffen ist. Unter dem ideologischen Deckmantel, Menschenschmuggel und Ertrinken verhindern zu wollen, wurde eine sogenannte „Migrationszone“ vor den australischen Gewässern geschaffen, um dort Boote direkt abfangen zu können. Wer sich in sie ohne Visum hineinbewegt, begeht eine Straftat und darf direkt inhaftiert und ohne Möglichkeit einer richterlichen Prüfung unendlich in Gewahrsam gehalten werden. Die wirkliche Neuerung hierbei: Die Haft wird aus Australien ausgelagert. Die unliebsamen Eindringlinge, die es wagen, an ihr Recht auf Asyl in einem sicheren Land wie Australien zu glauben, sollen als Abschreckung für alle anderen dienen. Die liberalkonservative Regierung wendete sich an die Nachbarländer, um dort sogenannte Regional Processing Centres zu eröffnen. Papua-Neuguinea und Nauru erklärten sich bereit, mit der Aussicht auf hohe Summen australischer Entwicklungsgelder. Trotz energischer Ablehnung verschiedener Inselstaaten der Region betitelt Australien diese Strategie als die „pazifische Lösung“. Die zwischenzeitliche Aussetzung dieser Politik durch die Labor Party zwischen 2008 und 2012 hat letztlich die Prinzipienlosigkeit dieser Partei gezeigt: Um das angebliche Verlangen der nach harten Grenzen lechzenden Wähler*innen zu befriedigen, beschwor sie im Wahlkampf 2012 erneut dieses unerbittliche Grenzmonster. Und das kam umso stärker zurück, weil ironischerweise die Konservativen, trotz aller Versuche Labors, sie rechts zu überholen, die Wahlen gewonnen haben und den einwanderungsfeindlichen Gelüsten noch mehr Genüge taten.

Mit dem neuen Regional Resettlement Arrangement wurden von nun an die Asylanträge von den Behörden in Papua-Neuguinea und Nauru bearbeitet und diejenigen, die als asylberechtigt anerkannt wurden, sollen in diesen Ländern angesiedelt werden. Von Labor-Premierminister Kevin Rudd über die nachfolgenden Premiers der Konservativen Tony Abbott, Malcolm Turnbull und Scott Morrison, sie hatten alle dieselbe Botschaft an die Abgefangenen: „Ihr werdet euch niemals und unter keinen Umständen in Australien niederlassen können!“ Mit der vom Militär geführten Kampagne „Operation Sovereign Borders“ werden seither mithilfe von Kriegsschiffen und Flugzeugen alle Boote abgefangen und in eins der außerterritorialen Haftzentren gebracht: auf die zu Australien gehörende Weihnachtsinsel, auf Papua-Neuguineas Insel Manus oder auf Nauru.

Gefängnisinseln Nauru und Manus

Dass diese Camps gerade auf Nauru und Papua-Neuguinea unterhalten werden, kommt nicht von ungefähr, denn Australien hat eine schwierige Geschichte mit beiden. Nach dem Ersten Weltkrieg hat Australien das Völkerrechtsmandat über Nauru erlangt, was es dazu veranlasste, die kleine Insel ihres Phosphats zu berauben. Zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung 1968 wurde geschätzt, dass die Insel aufgrund des Abbaus in den nächsten Jahrzehnten unbewohnbar werden würde. Nach einer Verurteilung durch den Internationalen Gerichtshof 1989 hat Australien aufgrund der schweren Umweltschäden an Nauru 57 Millionen Dollar Entschädigungszahlungen leisten müssen. Nachdem das Land für kurze Zeit selbst viel Reichtum aus dem Phosphatabbau ziehen konnte, ist es mit dem Versiegen der Ressource in Armut und Verschuldung verfallen. Der Deal, Geflüchtete für Australien einzusperren, bringt dem Land 30 Millionen Dollar jährlich.

Mit Papua-Neuguinea ist die Geschichte noch problematischer, denn es war die einzige Kolonie des 1901 gründeten Australischen Bundes. Übergeben vom „Mutterland“ Großbritannien hat Australien das Land mit krassem Paternalismus und gewaltsamer Kontrolle beherrscht, die sich auf radikale rassistische Wahnvorstellungen beriefen. Mit der Unabhängigkeit 1975 blieb der Inselstaat eine strategisch und sicherheitspolitisch wichtige Pufferzone sowie ein willkommener Ort für Investitionen und Ressourcenausbeutung. Australien hat sich durch ungleiche Beziehungen und Abhängigkeiten in der neuen Nation weitgehenden Einfluss gesichert.

Mit der „pazifischen Lösung“ nutzt Australien seine Lage und politische Stellung in der Region aus, um unautorisierte Migration mit allen Mitteln zu verhindern. Umgeben von viel Wasser und kleinen postkolonialen Inselstaaten, genießt es fast unbeschränkte Macht. Verschwommene und teilweise unkontrollierbare Grenzen im weiten Ozean lassen der „Operation Sovereign Borders“, die sich in Geheimnistuerei hüllt, freien Lauf. Die Auslagerung von ungewollten Asylanträgen auf die verschiedenen Inseln hat vielerlei Vorteile für Australien. Nicht nur wird damit verhindert, dass Menschen jemals australische Erde betreten – die Lage wird leichter kontrollierbar und die Verantwortungsverhältnisse völlig obskur. Dass Inseln eine Isolationsqualität besitzen, ist nichts Neues. Dies verunmöglicht nicht nur die Flucht, sondern schränkt auch den Zugang von Medien, NGOs, Anwält*innen und Aktivist*innen ein. Die Geflüchteten sind somit für die australische und internationale Öffentlichkeit völlig unsichtbar. Ihr Schicksal soll möglichst nur an die Menschen dringen, die beabsichtigen, in Australien um Asyl anzusuchen. Scott Morrison, heutiger Premierminister und damaliger Migrationsminister, sagte 2014 in einer direkten Ansprache an Menschen in den Inhaftierungslagern: „You are where you are because you’ve sought to come illegally to Australia by boat. You should tell anyone else you know who seeks to follow you that they should not do it. Or they ´ll find themselves in a similar circumstance or much much worse.“

Der Premier verspricht nicht „zu viel“. Die Geflüchteten sind in den Camps unter verheerenden Verhältnissen eingesperrt. Wie in den australischen Haftanstalten, haben die Insass*innen keinen Zugang zu Anwält*innen oder anderem Beistand, ärztlicher Betreuung, Bildungsmaterialen und anderen Beschäftigungen. Viele sind an dieser jahrelangen Folter, wie sie es nennen, förmlich zerbrochen. Lager reflektieren einen Ausnahmezustand und operieren außerhalb der rechtsstaatlichen Ordnung, wie Giorgio Agamben aufgezeigt hat. Tatsächlich scheinen hier weder lokale noch australische Rechtsordnungen zu greifen. Durch die rhetorische Heraufbeschwörung eines Katastrophenzustands, der solche Mittel erfordert, werden diese rechtsfreien Räume gerechtfertigt. Dass Australien mit dem Abfangen, Zurücksenden und Einsperren von Menschen internationale Abkommen wie die UN-Antifolterkonvention oder die Genfer Flüchtlingskonvention missachtet, scheint niemanden so richtig zu stören. Die Migrationszone stellt eine Grauzone dar, in der Australien Staatsmacht ausübt und in der gleichzeitig keine Asylrechte gelten.

Ein Albtraum in weiß

Die gezielte Kontrolle von Einwanderung hat in Australien Geschichte. Ähnlich wie die USA oder auch Südafrika ist die australische Gesellschaft als Kolonie auf Rassismus, Unterdrückung und Mord erbaut worden. Sozialdarwinistische Ideologien rechtfertigten den genozidalen Umgang mit Australiens First Nations People sowie die sklavenähnliche Ausbeutung von Menschen der pazifischen Inseln. Der Immigration Restriction Act war eines der ersten verabschiedeten Gesetze nach der Gründung des Australischen Bunds und der Beginn der „White Australia“-Politik. Mit dem Ziel einer möglichst homogenen weißen Gesellschaft wurden aktiv westeuropäische Migrantinnen rekrutiert, während nicht weißen Menschen der Zutritt verwehrt wurde – mithilfe von Methoden, inspiriert vom südafrikanischen Apartheidssystem. Der Großteil der zuvor nach Australien gelockten und ausgebeuteten Arbeiterinnen der Pazifikinseln wurde abgeschoben. Der Albtraum einer „westlichen Enklave“ im Pazifik war bis in die 1970er institutionalisierte Politik.

Als die ersten Menschen 1976 unangekündigt per Boot an den Ufern Australiens strandeten, fand diese Politik gerade erst ihr langsames Ende. Die sofortige populistisch-xenophobe Ausschlachtung der Neuankömmlinge ist nicht verwunderlich. Wie ein Zombie geistert „White Australia“ bis heute umher. Absolute Kontrolle über die „nicht weißen Massen“, die Australiens Grenzen einzurennen drohen, ist bis heute das Credo. Und so sitzen tausende Asylsuchende oder sogar anerkannte Flüchtlinge in Australiens Haftzentren ohne Aussicht auf Entlassung. Obwohl das Höchstgericht Papua-Neuguineas 2016 das Lager für verfassungswidrig erklärt und aufgelöst hat, sind bis heute noch Geflüchtete in dem Land und warten darauf, dass Australien seiner Verantwortung vor der UN-Flüchtlingskonvention nachkommt. So geht es auch den 32 Menschen, die zurzeit im Carlton Park Hotel in Melbourne sitzen. Zwar haben einige Medien von den Geflüchteten berichtet und sie zu Wort kommen lassen, aber sie sind gemeinsam mit dem Tennisstar Novak Đoković abgezogen. Die Menschen hinter den Fenstern oder Gittern müssen ausharren.