MALMOE

Aus dem Zentrum 
der Vernichtung

Vom unmöglichen Erinnern und der Notwendigkeit, das Unmögliche zu erinnern

Jüngst sind mit der Wiederauflage von Filip Müllers Werk Sonderbehandlung (2022) und der ersten umfangreichen Veröffentlichung von Salmen Gradowskis Schriften auf Deutsch, Zerteilung (2019), zwei detaillierte Zeugnisse aus den Krematorien von Auschwitz erschienen. Die Autoren der Bücher waren gezwungen, im „Sonderkommando“ tätig zu sein. In der Sprache des Nationalsozialismus steht der Euphemismus „Sonderkommando“ für jenen Teil im perfiden KZ-System des NS-Regimes, der die physische Vernichtung von Deportierten vorbereitete, teilweise durchführte sowie die Körper der Opfer im Krematorium verbrannte und abschließend die Asche verstreute. Angehörige dieses „Kommandos“ waren ausschließlich Juden. Im KZ-System sollte das „Sonderkommando“ selbst nach drei Monaten gänzlich ermordet und neu besetzt werden. Das Ziel war es, die Spuren und Zeug:innen der Vernichtung selbst zu vernichten. In der Realität war das aber nicht der Fall, da die Tätigkeiten sehr voraussetzungsvoll waren und somit erfahrene Häftlinge gebraucht wurden. Trotzdem gibt es nur wenige Überlebende und noch weniger teilten ihre Erfahrungen. Häftlinge im „Sonderkommando“ existierten im Wissen ihrer baldigen eigenen Vernichtung. Inhaftierte in dem Teil des Lagers waren es, die vom komplexen und gesamten Ausmaß des Tötungsprozesses Kenntnis hatten.

Während Filip Müller die Befreiung durch die US-Truppen im KZ Mauthausen erlebte, wo er nach der Räumung von Auschwitz kurz vor der Befreiung hin deportiert wurde, erlebte Gradowski die Befreiung nicht, er ist am 7. Oktober 1944 bei einer unkoordinierten Revolte von Inhaftierten, die es schafften, ein Krematorium zu zerstören, erschossen worden.

Flaschenpost an die Nachwelt

Die vorliegenden Zeugnisse decken nicht nur eine der krassesten Seiten des mörderischen Systems auf, sie sind darüber hinaus selbst auch Widerstand. Während Müllers Zeugnis rückblickend über seine Zeit in Auschwitz verfasst wurde und sich gegen eine kollektive Amnesie des deutschen Tätervolks stellt, schrieb Gradowski während seiner Deportierung nach Auschwitz. Das ist, trotz der vielen Gemeinsamkeiten von Müller und Gradowski ein ganz fundamentaler Unterschied. Damit sind die Dokumente, die aus dem Jiddischen aufwendig und mit neun technischen Möglichkeiten ins Deutsche übersetzt wurden, Zeugnisse, die parallel zum laufenden Prozess der Vernichtung in Auschwitz angefertigt wurden. In kleinen Notizbüchern und Zetteln, die in Form von Flaschenpost um das Krematorium versteckt wurde, adressierte Gradowski seine Schriften an einen „freien Menschen“, der erfahren sollte, was passierte. Der Wunsch von Salmen Gradowski war es, dass seine Schriften veröffentlicht werden. Auch wenn es einige mehr geben sollte, die entweder geplündert und aus dem befreiten Auschwitz geräubert wurden, schon von der SS im Lager gefunden oder anderweitig zerstört wurden, wird von zwei Konvoluten an Texten gesprochen.

Die eingesetzte sowjetischen Untersuchungskommission zur Aufklärung der NS-Verbrechen, der bald nach Kriegsende einen Teil der Texte übergeben wurde, folgte dem Wunsch des Autors einer Publikation mit einem Foto, das von einem Onkel aus New York anzufordern sei, nicht. Sie übersetzten sie ins Russische und archivierten die Dokumente stattdessen im Militärmuseum in Leningrad. Es war eine politische Entscheidung, die Zeugnisse passten nicht in das verfolgte und vorherrschende antifaschistische Narrativ. Die zwei bekannten Textsammlungen führten jahrzehntelang eine Parallelexistenz, erst später wurden sie zusammengebracht. Während Gradowski in dem Wissen schrieb, die Befreiung nicht mitzuerleben und an eine:n unbekannte:n Adressat:in in ungewisser Zukunft schrieb, verfasste Müller sein Bericht im postnazistischen Klima der Nachkriegszeit.

Bericht gegen die Nachwelt

Filip Müllers Familie hat der Neuauflage von Sonderbehandlung zu seinem 100. Geburtstag ermöglicht. Lange war das Buch vergriffen und wurde für mehrere hundert Euro auf Büchermärkten angeboten. Nach der Erstveröffentlichung auf Englisch, Französisch und Deutsch 1979/1980 sah sich Müller massiver Anfeindungen und Morddrohungen von Alt- und Neonazis ausgesetzt, was ihm davon abhielt, einer Wiederauflage zustimmen. Ein Grund der Anfeindungen war die Qualität des Materials. Mit viel Unterstützung wurde aus dem emotionalen Zeugnis ein sachlicher Bericht. Aufgrund der Sachlichkeit und der Gravität des Zeugnisses war es eine ernste Bedrohung für viele ungeschorene Täter und wenige Täterinnen. So schoss sich die Verteidigung der Angeklagten bei den Frankfurter Auschwitzprozessen auf einen Angriff auf Müllers Glaubwürdigkeit ein, der dort als Zeuge aussagte. Im Text zur Kontextualisierung heißt es dazu: „Die Revisionisten und Verdränger haben Müller seine einzigartige Zeugenschaft und die Besonderheit seines Überlebens nie verziehen.“

Durchzogen waren die jeweils komplizierten und herausfordernden Rezeptionsgeschichten beider Autoren von dem Stigma, das den Zwangsmitgliedern des „Sonderkommandos“ als „Kollaborateuren der Vernichtung“ anhaftete, wie es Aurélia Kalisky und Andreas Kilian im umfangreichen Zusatzmaterial von Zertrennung formulieren. Neben neueren historischen Forschungen, die das Stigma aufbrachen, war es auch Müllers Beteiligung in Claude Lanzmanns filmischen Zeugnis Shoah (1985), das zu einem Umdenken beitrug.

Erinnern ohne Zeug:innen

Die Ambitionen der Autoren richten sich von ihren jeweils unterschiedlichen Standpunkten an eine Nachwelt. Die Neu- bzw. Wiederveröffentlichung erscheint zu einer Zeit, wo fast keine Primärzeug:innen mehr am Leben sind und sich die Frage gestellt wird, wie eine Erinnerungspädagogik ohne Zeitzeug:innen aussehen kann. Zeitgleich hielt die Frage nach den Möglichkeiten eines Erinnerns vom Unvorstellbaren grundsätzlich Einzug in die Debatte. Wie lässt sich etwa die Realität des „Sonderkommandos“ vorstellen? Verstärkt wurde der Diskurs um eine Unmöglichkeit des Erinnerns durch eine spezifische Rezeption von Giorgio Agambens Was von Auschwitz bleibt (2003). Doch ist es gerade die sehr einseitige Lesart von Agambens Werk, die von einer negativen Unmöglichkeit spricht. In der Einleitung vom Buch wird viel mehr von der Notwendigkeit einer nicht endenden Befragung gesprochen: „Die Überlebenden legten Zeugnis ab für etwas, das nicht bezeugt werden konnte. Ihr Zeugnis zu kommentieren bedeutete damit notwendig, jene Lücke zu befragen – oder besser: zu versuchen, ihr zuzuhören.“ Und so beendet Agamben sein Buch mit der Wahl, Primärzeugnissen von Überlebenden das letzte Wort zukommen zu lassen. Nur durch das unabgeschlossene, offene Erinnern ist es möglich, Erinnerung lebendig zu halten. Sie gerade nicht als passierte Vergangenheit abzuschließen. Denn ein mit dem Abschluss sich einschleichendes Vergessen hilft den Tätern und Täterinnen, dazu greift es abermals die Zeug:innen als Wissensträger an. Gerade bei der uns bevorstehenden Zeitenwende, wo es mehr denn je gefordert ist, die Erinnerung lebendig zu halten. Die zwei hier besprochenen Werke bieten – nicht zuletzt mit ihrem umfangreichen Zusatzmaterial von gesellschaftlichen Kontextualisierungen und Rezeptionsgeschichten – dafür eine Praxis des Erinnerns, ausgehend vom Unvorstellbaren, aber eben doch passierten genozidalen Gräueltaten.

Den Herausgebenden ist klar, mit welchem Anspruch diese Zeugnisse neu verlegt worden sind: Es ist um uns Nachgeborene, die den Verbrechen, von denen diese zwei Werke Zeugnis ablegen, heute, morgen und immer wieder zu verunmöglichen haben.

Unfähigkeit der Vorstellung

Zentral ist vielleicht, neben der Unmöglichkeit der Vorstellung, eine Unfähigkeit des emphatischen Hinhörens. Auf den Punkt bringt diese Dynamik die Überlebende Ester Tencer, in dem für die österreischiche postfaschistische Erinnerung bedeutenden Werk „Ich geb dir einen Mantel, dass du ihn noch in Freiheit tragen kannst.“ Widerstehen im KZ: österreichische Frauen erzählen (1987) Zeugnis ablegt. Tencer sagte auf die Rückfrage, ob ihre Darstellung aus ihren Erfahrungen im KZ bereits im Juli 1945 auch wirklich stimmen würden, bei einem Vortrag in einer Schule in Malmö: „So ist das also (…), ihr glaubt nicht, was wir euch berichten! Dabei können wir gar nicht erzählen, was wir tatsächlich miterlebt haben. Diese Empfindungen kann man mit Worten nicht wiedergeben.“ Die Unmöglichkeit, das eigene Zeugnis erzählen zu können, weil es auf ungläubige Ohren trifft, ist ein durchgehendes Muster von Erfahrungen, das Überlebende teilen. Müller spricht aber auch von der Unfähigkeit, dass nicht einmal er selbst heute begreifen könne, was er alles habe miterleben müssen. Der eigene Unglaube wird verstärkt durch die dominanzgesellschaftliche Unfähigkeit.

Den Lücken zuhören

Nur im Zuhören und dem Trainieren der Vorstellungskraft lässt sich ein emphatisches Bewusstsein schulen und ausbilden, das es vermag, die Lücke zu befragen, ohne den Anspruch oder die Absicht zu verfolgen, sie zu schließen. Während Müllers Bericht eher sachlich, analytisch und deskriptiv über die Verbrechen und Abläufen erzählt, wählte Gradowski für seine im Geheimen verfassten Zeugnisse über weite Strecken ein einladendes Stilmittel: „Komm mein Freund (…), stellen wir uns an eine Seite, um das gräuliche, schauerliche Bild besser beobachten zu können.“ Für den Kampf gegen das allgemeine Vergessen und für das Training der Vorstellungskraft sind die Veröffentlichungen mit ihren umfangreichen Begleittexten von Filip Müller und Salmen Gradowski ganz zentrale Zeugnisse. Denn es geht darum, Fähigkeiten zum besseren Beobachten und zur Empathie zu erlernen, um einer Ester Tencer nie wieder ihre Glaubwürdigkeit abzusprechen, weil wir unfähig sind, uns Derartiges auch nur annähernd vorstellen zu können.

Filip Müller (2021): Sonderbehandlung: Meine Jahre in den Gaskammern und Krematorien von Auschwitz. WBG Theiss, Stuttgart, 28 Euro
Salmen Gradowski (2019): Die Zertrennung: Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos. Aus dem Jiddischen und mit einem Nachwort von Almut Seiffert und Miriam Trinh. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin, 25 Euro