MALMOE

Stadtkonflikte eingehen und 
das gute Leben für alle fordern!

Im Gespräch mit Gabu Heindl über radikale Stadtpolitiken, Caring und politische Effektivitäten

MALMOE: Was ich immer faszinierend finde, ist, wenn sich Menschen an verschiedenen Schnittstellen rund um Theorie und Praxis bewegen. Bei dir, würde ich sagen, ist das auch der Fall. Du arbeitest als Architektin, mit eigenem Büro in Wien, lehrst an Universitäten in London, Nürnberg und Wien, bist in der Partei Links engagiert und beschäftigst dich mit kritischer politischer Theorie. Deine Praxis als Architektin ist theoretisch und historisch informiert und du bist über Vermittlungskontexte in einem intensiven Austausch über deine Praktiken. Ich fände es spannend, über deine Motivation ins Gespräch zu kommen. Was motiviert dich?

Gabu Heindl: Je älter ich werde, desto motivierter bin ich, auch weil die Anzahl der Krisen steigt, die die Welt jedes Mal noch ein Stück weit ungleicher und ungerechter hinterlassen. Und vor allem weil Änderungen so dringlich notwendig sind …

Woraus ziehst du Kraft, dieses Level an Engagement aufrecht zu halten?

Das klingt mir viel zu heroisch, auch weil ich leider nicht unbegrenzt Kraft habe. Sie geht uns doch allen immer wieder auch aus. Aber so mancher Aktivismus-Kontext gibt auch Kraft für die anderen Tätigkeiten. Am stärksten habe ich so empfunden in der Zeit der Donnerstagsdemos rund um Türkis-Blau. Viele haben noch viel mehr gearbeitet als ich, und dennoch gab es das extra obendrauf: Die zusätzliche Arbeit wurde aber kompensiert durch das starke solidarische Gefühl an den Donnerstagen. Das hat beflügelt und Kraft gegeben – noch dazu war das viele Gehen sicher auch gesund.

Wir finden überall in Europa sogenannte Soziale Parteien (SP), die besonders im Wohnungsbau Privatisierungen und Auslagerungen vorantreiben. Ich denke da an das SP-regierte Schweden, wo es zu einer massiven Privatisierung des öffentlichen Wohnungsbaus kam, oder auch England unter Blair (Labour), der Thatchers Neo-Liberalisierung weiter betrieben hat. Und es scheint so, als ob die Sozialen Parteien ihren Vertrauensvorschuss ausnutzen, um neo-liberale wohlfahrtsstaatsfeindliche Politiken durchzusetzen. Jetzt haben wir in Wien, wo die SPÖ in der 2. Republik die Stadtpolitik definiert, eine ähnliche Situation. Welche Gefahren siehst du hier?

Es wird zu häufig im Sinne eines TINA-Modus argumentiert, also des neoliberalen „There is no Alternative“. Etwa wenn es um den Verkauf von öffentlichen Gütern geht, wie die behördlichen Amtshäuser, die zurzeit verkauft werden sollen (z.B. das in Aspern). Oder auch bei den neuen Campus-Schulen, die als Public Private Partnerships entwickelt werden, wo die Öffentlichkeit (in diesem Fall die Stadt) nicht mehr Eigentümerin ist, sondern selbst Mieterin. Und auch im Wohnbau wird schleichend privatisiert. Sei es durch die Vergabe von Grundstücken an privatwirtschaftliche Wohnbauträger, oder durch die Miet-Kauf-Option, die es möglich macht, die geförderte Wohnung nach wenigen Jahren zu kaufen. Letzteres ist eine Bundes-Regelung. Auch dafür gibt es Möglichkeiten der Umgehung: Der Wohnfonds Wien könnte Grund und Boden nur in Erbpacht vergeben mit der Konsequenz, dass der Boden in städtischem Eigentum bleibt und es in dieser Konstellation dann auch nicht möglich ist, die Wohnungen per Miet-Kauf-Option zu verkaufen. Letztlich geht es aber darum, diese Fragen zu politisieren: Wohnen als Menschenrecht, das für alle gleich gilt versus Wohnen als Anlegerprodukt, das als Leerstand wie ein drei-dimensionales Sparbuch wertvollen Stadtraum besetzt oder befristet bewohnt werden „darf“. Buwog (ehemals staatliche Bauen und Wohnen GmbH) ist ein gutes Anschauungsbeispiel, ähnlich wie die Deutsche Wohnen AG: Die Buwog mit ihren rund 62.000 Wohnungen wurden unter Schwarz-Blau privatisiert. Und heute agiert sie weltweit im kaum durchschaubaren Verbund von Investmentgesellschaften um Vonovia, dem Hedgefonds Blackrock u.a. Jetzt hat das börsennotierte Unternehmen den „Markt“ der geförderten Wohnungen (also den sozialen Wohnbau) in Wien entdeckt, weil es erlaubt ist, dass auch privatwirtschaftliche markt-orientierte Akteur:innen sozialen Wohnbau errichten. Warum tun sie das? Sie haben so Zugang zu extrem günstigen Grundstücken, erhalten Förderungen für den Bau, und nach einer gewissen Zeit fallen die Wohnungen aus den gemeinnützigen Bedingungen heraus. So geht Umschichtung von öffentlichen Geldern und Ressourcen an den privaten Markt in noch subtilerer Form als der Schnäppchenverkauf der Bundeswohnungen im Jahr 2004.

Politik, die von einer Partei über Jahrzehnte definiert wird, läuft Gefahr undynamisch und kreativlos zu werden – was sind da deine Beobachtungen im Kontext von Wohnungsfragen in Wien?

Ich würde gar nicht von Mangel an Kreativität reden, dann so manches Ausschlusskriterium im Wohnbau könnte man auch eine „kreative“ Lösung nennen: Das Wiener Wohnticket z.B., Basis für den Zugang zu einer Gemeindebauwohnung, ist gebunden an die Zeit, die mensch an einer Adresse gemeldet ist. Damit werden zugleich Neu-Ankömmlinge, ob aus einem anderen Bundesland oder aus dem globalen Süden, aber auch Menschen an Lebensbruchstellen, die nicht lange genug gemeldet waren, ausgeschlossen. Das alles mit dem Argument, dass eben nicht ausreichend kommunaler Wohnbau vorhanden ist. Radikaldemokratische Politik würde sich aber umgekehrt fragen, wie die Knappheit abgeschafft werden könnte, wie – vielleicht in kritischer Anlehnung an das Rote Wien und die Wohnbausteuer – von oben nach unten umverteilt werden kann, sodass genug Wohnraum für alle da ist und das Ausspielen von prekarisierten Menschen gegeneinander auch nicht mehr so leicht möglich ist.

Eine Umverteilungssteuer für 2021? Wie könnte die aussehen – und wäre so ein Format wie vor hundert Jahren überhaupt ein mögliches Szenario für eine radikale Umverteilungspolitik heute?

Es wäre wichtig, eine öffentliche Diskussion zu führen, welche Steuern heute zur Umverteilung taugen und – was mir noch wichtiger erscheint – wofür das Geld genutzt wird und im Weiteren neu genutzt werden sollte. Sodass es neue selbstbewusste Beschriftungen im städtischen Raum geben könnte, die formulieren mit welcher Steuer z.B. welche öffentlichen Räume umgestaltet oder gewartet werden. So wie es noch heute auf den Gemeindebauten aus den 1920er und 1930er Jahren zu lesen ist: „Erbaut (…) aus den Mitteln der Wohnbausteuer.“

Und wie stehst du zu Forderungen nach Enteignung im Kontext von Wien? Realpolitisch scheint das Szenarium sehr weit entfernt – aber die Idee ist lebendig und präsent.

Na ja, es gibt die 2019 eingeführte Widmungskategorie „geförderter Wohnbau“, die im Prinzip den Bodenpreis reguliert – da gab es rasch ganz real den Aufschrei von Grundstückseigentümer:innen, dass man sie quasi-enteignen würden, also ihren spekulativen Gewinn enteignet. Die Kategorie wurde eingeführt, nun sollten wir alle aufmerksam und kritisch beobachten und fordern, dass diese Widmungen auch umgesetzt werden.
Das Thema Enteignung wird aber generell noch sehr brisant werden, nachdem die soziale Krise ja mit der ökologischen und globalpolitischen Krise zusammenzudenken ist. Wenn bezahlbarer Wohnraum zu knapp wird, dann lautet das historische Modell, das bis heute angewandt wird: mehr bauen, bauen, bauen … Allerdings spießt sich das ordentlich mit einem ökologischen und global ressourcenschonenden Anspruch: Eigentlich sollte nur noch für gemeinwohl-relevante Zwecke neu gebaut werden. Und selbst wenn wir nur noch gemeinnützigen Wohnbau errichten, sollten zuvor alle leerstehenden oder unterbenutzten Räume einer Nutzung zugeführt werden, indem Menschen in ihnen wohnen, arbeiten, leben können. Barcelona fordert seit kurzem jene Wohnungen von den Banken zurück, die diese im Rahmen der Wirtschaftskrise 2007 eingezogen hatten und die bisher leer standen.
Die Stadtbevölkerung wird wachsen und soll ja unbedingt wachsen können, denn: Das Recht auf Stadt steht allen zu. Deshalb ist es umso wichtiger, das öffentliche Interesse, dass alle angemessenen Wohnraum haben, vor das privatwirtschaftliche Investitionsinteresse zu stellen.
Die Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen hat es realpolitisch denkmöglich gemacht, Wohnraum wieder aus privatwirtschaftlichen Profit-Kontexten herauszuholen und kollektive Eigentümer:innenschaften zu entwickeln, damit alle, auch die, die noch nicht da sind in der Stadt, bezahlbaren Wohnraum und gute ökologische Lebensbedingungen vorfinden – ob die, die erst ankommen, oder die zukünftigen Generationen, die noch nicht geboren sind.

Wie siehst du das Verhältnis von politischer Lobbyarbeit und radikalem Aktivismus auf der Straße? Besonders vor dem Hintergrund, dass ich die Beobachtung habe, linke Bewegungen verstehen ihre Kämpfe heute integraler als noch vor ein paar Jahren. Da ist es auch kein Widerspruch mehr, wenn eine Gruppe Häuser besetzt („radikale Ansätze“) und Unterschriften sammelt („reformistischer Ansatz“) oder Straßen blockiert und Wahlprogramme mitgestaltet etc.

Es geht gar nicht anders, als Allianzen – besonders unerwartete – zu schmieden und auf verschiedenen Ebenen zu agieren. In der radikalen Demokratietheorie gibt es den Begriff der Äquivalenzketten, der die Verbindung von unterschiedlichen Akteur:innen beschreibt, die durch ein gemeinsames Außen verbunden werden – durch etwas, wogegen alle, trotz ihrer unterschiedlichen Positionen, gemeinsam sind.
Etwa wenn Klima-Aktivist:innen und die Anrainer:innen vom Wiener Stadtteil Hirschstetten gemeinsam gegen die Stadtstraße protestieren. Wobei diese „Kette“ noch zu erwarten ist. Spannend wäre es, wenn sich die autofahrenden Berufspendler:innen anschließen, von denen die Befürworter:innen der Autobahn behaupten, dass diese das Auto und die Autobahn dringend brauchen – während man S-Bahn-Haltestellen schließt anstatt echte öffentliche Verkehrsalternativen aufzubauen. Hier zeigt sich aber, dass politische Lobby-Arbeit noch einen langen Weg vor sich hat, um der Auto-Lobby und dem Identitäts-Fetisch Auto was entgegenzuhalten.

Aktivismus definiert sich auch darüber, was funktioniert. Welche Beispiele fallen dir aktuell ein, wo du sagst, hier ist etwas Spannendes und Progressives passiert? Vielleicht auch Momente, die dich überrascht haben?

In Zürich ist die Entwicklung einer Züri-Card von Aktivist:innen schon erstaunlich weit gebracht worden: eine Bürger:innenkarte, die allen Menschen in Zürich die gleichen Rechte und Zugänge zu öffentlichen Gütern gewährleisten soll. Das ist wichtige Arbeit auch für andere Städte der Migrationsgesellschaft. Im Sinn von punktierter Kritik, wie die Spekulation mit städtischem Raum und die Abschottungspolitik an Europas Grenzen zusammenhängt, fand ich die Links-Straßeninschrift-Aktion „Hier ist Platz für XX Menschen“ wunderbar auf den Punkt getroffen. Eine Aktion, bei der auf den Asphalt vor leerstehenden Häusern riesige Schriftzüge gemalt wurden, die auf ungenutzten Wohnraum aufmerksam machten. Der Protest gegen die Naschmarkthalle ist stark und schön sichtbar mit seinen Aktionen und den vielen gelben Sonnenblumentransparenten in den Fenstern der Häuser rund um den Naschmarkt. Die erfolgreichen Proteste vor einigen Jahren gegen die geplante Quasi-Privatisierung der Donaukanalwiese durch eine Groß-Gastronomie waren wichtig für eine Politisierung in Bezug auf den öffentlichen Raum. Und es wird sich noch zeigen, wie weit die Proteste gegen die Stadtstraße und den Lobautunnel noch anwachsen. Eines zeigt sich aber jetzt schon: Man kann heute nicht mehr einen Autobahn-Zubringer ohne Fußgänger:innen, Fahrradfahrer:innen und öffentlichen Verkehr euphemistisch „Stadtstraße“ nennen. Ernstgemeinte Stadtstraßen sind für alle Stadtteilnehmer:innen da, mehr noch: Sie unterstützen die Fortbewegung mit öffentlichem Verkehr, zu Fuß und auf dem Fahrrad. Und es wird nicht aufrecht zu erhalten sein, die Autofahrer:innen, solange es keine progressivere öffentliche Verkehrs-Politik gibt, als Feigenblatt zu verwenden dafür, dass Wien Autobahnen braucht. Hoffentlich findet das Protestcamp einen leistbaren wintersicheren Platz, um diese wichtige Auseinandersetzung weiterführen zu können – hier wird der Mangel an solchen Räumen sichtbar werden, wie sie die ungebremste Finanzialisierung und Spekulation mit Stadtraum mit sich bringt. Es gibt eine Menge Stadtkonflikte in Wien, die das Recht auf Stadt fundamental betreffen und die zu einer breiten Politisierung und Allianzenbildung führen können. Im Aushandeln der Konflikte können wir die Frage stellen, in was für einer Stadt wir alle gemeinsam leben wollen.

Gabu Heindl ist Architektin und Stadtplanerin in Wien, 2020 ist ihr Buch Stadtkonflikte. Radikale Demokratie in Architektur und Stadtplanung im Mandelbaum Verlag erschienen.