MALMOE

Lockdown im Lager

Moira Lavelle ist No-Border-Aktivistin und freie Journalistin in Athen, Griechenland. Im Interview mit MALMOE erklärt sie, wie die griechische Regierung Geflüchtete für die Ausbreitung des Virus verantwortlich machen, obwohl diese die Camps meist gar nicht verlassen dürfen.

MALMOE: In unserer letzten Ausgabe wurde eine Aktivistin zitiert, die meinte, der griechische Staat würde Corona abfeiern. Wie nützt Corona der griechischen Regierung?

Moira Lavelle: Der griechische Staat setzt die Corona-Maßnahmen gezielt gegen Migrant_innen und Geflüchtete ein. Sie dienen als Instrument, das eigentliche Ziel der Regierung zu erreichen, nämlich Migration und Fluchtbewegungen insgesamt einzudämmen. Die Regierung will, dass entweder alle Geflüchteten in Camps weggesperrt werden oder erst gar nicht nach Griechenland kommen. Ich sage das in sehr einfachen, platten Worten, aber wenn man sich die Strategiepapiere der griechischen Regierung anschaut, steht dort klar und deutlich, dass das Ziel der Migrationspolitik darin liegt, sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge bereits an der Grenze zu identifizieren und abzuweisen sowie die Anzahl der „freiwilligen Rückkehrer_innen“ zu erhöhen.

Woran machst du das fest?

Als das Coronavirus Griechenland erreichte, wurden als eine der ersten Maßnahmen die Kontrollen an der griechisch-türkischen Grenze verstärkt. Premierminister Kyriakos Mitsotakis (der liberal-konservativen Nea Dimokratia Partei) stellte sofort die Verbindung zwischen den Coronafällen und den „illegalen Grenzübertritten“ her. Dabei ist belegt, dass Leute, die auf der Fashion Week in Mailand waren, das Virus nach Griechenland gebracht haben. Die Maßnahmen und das, was über Verbreitungswege des Virus bekannt war, passten also nicht zusammen. Kurz danach wurde im gesamten Land ein sehr strenger Lockdown verhängt, für den Griechenland international übrigens sehr gelobt wurde. Als der Lockdown nach zwei Monaten aufgehoben wurde und sich die Straßen langsam wieder füllten, blieben die meisten Geflüchteten in den Camps eingesperrt. Immer wieder wurde der Lockdown in den Camps um zwei Wochen verlängert. Vereinzelt gab es auch Lockerungen, allerdings wurden die nicht gut kommuniziert. So war Geflüchteten oft nicht klar, was nun erlaubt war und was nicht. Vor allem aber löste es große Unsicherheit aus, dass die Geflüchteten nicht wussten, wie lange der Lockdown noch dauern würde. Jedes Mal, wenn jemand positiv getestet wurde, wurde das Camp komplett isoliert, was bedeutete, dass wirklich niemand das Camp verlassen oder betreten konnte, auch nicht die Sozialarbeiter_innen. Die Asylverfahren wurden während dieser Zeit eingefroren. Gleichzeitig wurde bereits Ende Mai eine aggressive Werbekampagne gestartet, um unter dem Slogan „Greek summer is a state of mind“ ausländische Tourist_innen auf die Inseln zu locken.

Du stehst im engen Kontakt mit einigen Geflüchteten aus dem Camp Moria auf der Insel Lesbos. Wie reagierten die Geflüchteten dort auf diesen Lockdown?

Obwohl Moria so wie viele andere Camps in ganz Griechenland seit März im Lockdown ist, gab es bis September in Moria keinen bestätigten Fall des Coronavirus. Den ganzen Frühling und den ganzen Sommer über, so wurde den Leuten gesagt, durften sie das Lager wegen des Coronavirus nicht verlassen und das, obwohl niemand im Lager infiziert war. Die Leute waren frustriert und verzweifelt. Nicht nur, weil es schwieriger war an Essen und medizinische Versorgung zu kommen, sondern auch, weil jedes bisschen Struktur und alle sozialen Netzwerke, die sich die Menschen außerhalb des Camps aufgebaut haben, auf einmal nicht mehr zugänglich waren. Sie konnten ihre Griechischkurse nicht besuchen, sich nicht mit Menschen in der Stadt austauschen und sich nicht mit Aktivist_innen vernetzen.

Anfang September wurden mehrere Brände im Camp Moria gelegt …

Es gibt viele Diskussionen über die Brandursache, aber klar ist, dass zumindest eine Handvoll Personen absichtlich Feuer legte, um gegen die unverhältnismäßigen Maßnahmen zu protestieren. Eine Woche vor den Bränden wurde die erste Corona-Infektion im Camp entdeckt und die Maßnahmen wurden noch einmal verstärkt. Seit März war es den Geflüchteten bereits verboten, die Stadt Mytilini zu betreten. Polizist_innen hatten einen Checkpoint beim Eingang des Camps errichtet und kontrollierten, was an Essen und Wasser ins Camp gebracht wurde. Dadurch kam es zu Engpässen in der Versorgung. Es wurde argumentiert, die Maßnahmen seien notwendig, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Als die Geflüchteten nach den Bränden in ein neues Camp namens Kara Tepe gebracht wurden, wurden alle getestet und auch dort wurde ihnen verboten, das Camp zu verlassen. Wiederum aufgrund der Corona Maßnahmen. Ich will damit nicht sagen, dass es überhaupt kein social distancing, keine Tests oder andere Vorschriften geben sollte. Ich will damit nur sagen, dass wenn man sich genauer ansieht, wie die Maßnahmen vollzogen werden, es deutlich wird, dass sie dafür benützt werden, Migrant_innen und Geflüchtete in Camps einzusperren und sie so auf Abstand zum Rest der Bevölkerung zu halten. Für Menschen, die nicht Teil des weißen, griechischen Mainstreams sind, wird ein doppelter Standard angelegt.

Wie ist die Situation heute, Anfang Dezember?

Griechenland ist seit Anfang November wieder im Lockdown. Derzeit deutet alles darauf hin, dass dieser noch den größten Teil des Dezembers andauern wird. Für Geflüchtete in den Camps bedeutet das, dass sie weiterhin eingeschränkten Zugang zu Nahrung, Wasser, medizinischer Versorgung und Bildungsangeboten haben. Ihre Asylverfahren werden unterbrochen oder ihre Anträge langsamer bearbeitet. Für Geflüchtete und Migrant_innen in den Städten bedeutet das eine verstärkte Überwachung auf den Straßen und eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei sie aufhält und sie wegen „unnötiger Bewegung“ bestraft.

Die griechische Regierung steht vor einem Dilemma. Wenn sie den Lockdown durchzieht, wird dies auf Kosten jener Unternehmen gehen, die für die griechische Wirtschaft am wichtigsten sind: Restaurants, Bars, das Gastgewerbe und überhaupt der ganze Dienstleistungssektor. Aber jedes Mal, wenn sie die Maßnahmen lockert, steigen sogleich die Zahlen rapide an. Aber anstatt die Intensivbetten aufzustocken, die Testkapazitäten auszuweiten und mehr Ärztinnen und Ärzte einzustellen, setzt die Regierung enorme Ressourcen dafür ein, die Anzahl der Polizist_innen auf den Straßen zu erhöhen und diese neu auszustatten. Gleichzeitig macht die Regierungspartei Nea Dimokratia Migrant_innen und Geflüchtete für die Ausbreitung des Virus verantwortlich, obwohl es keinerlei Zahlen gibt, die diese Annahme untermauern würden. Dennoch wiederholt sie unablässig, dass die Wahrscheinlichkeit einer Infektion bei Migrant_innen höher sei und daher ein Risiko von ihnen ausgehe. Diese Verknüpfung einer gesellschaftlichen Gruppe mit einem erhöhten Ansteckungsrisiko ist für mich der gefährlichste und heimtückischste Aspekt der gesamten Situation, denn das hat langfristige Auswirkungen für alle, die so stigmatisiert werden.