MALMOE

Eine Rast im Frauenhaus Maison Baobab

Marietta Mayrhofer-Deák hat mit Emmanuel Mbolela über die aktuelle Situation von Migrantinnen in Rabat, migrantische Selbstorganisierung und die Verschiebung der EU-Außengrenzen in nordafrikanische Länder gesprochen.

Emmanuel Mbolela wurde 1973 in Mbuji-Mayi im Zentrum der Demokratischen Republik Kongo geboren. Er hat in seiner Heimatstadt Ökonomie studiert, musste jedoch aus politischen Gründen 2002 das Land verlassen. Seine sechsjährige Flucht und Erfahrung als Geflüchteter in Mali, Algerien und Marokko und den langen Prozess des Ankommens in Europa schildert er in seinem autobiografischen Buch Mein Weg vom Kongo nach Europa. Während seiner Flucht erlebte Mbolela zahllose gewaltsame Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen, gegen ihn selbst und andere Flüchtende. In Marokko wurde er Zeuge mehrerer Polizeirazzien: Die Uniformierten verschafften sich zumeist gegen vier Uhr morgens Zutritt zu den Wohnungen der Flüchtenden, verfrachteten sie in Polizeibusse und brachten sie in die Wüste an der algerisch-marokkanischen Grenze. Dort wurden die Menschen ohne Wasser und Nahrung ausgesetzt und sich selbst überlassen. Unter ihnen waren auch Frauen, Kinder und Schwangere. Mbolelas Buch wurde in vier Sprachen übersetzt, über 10.000 Mal verkauft und auf zahlreichen Lesereisen vorgestellt. Im Rahmen dieser Lesungen wuchs die Idee, in Marokko ein Projekt von Migrant*innen für Migrantinnen aufzubauen: das Rasthaus Maison Baobab zur Unterstützung von Migrantinnen in Rabat. Es ermöglicht neu ankommenden Frauen und ihren Kindern eine Verschnaufpause auf der Flucht: eine sichere Unterkunft für drei Monate und ein Angebot an Kursen, die von Migrant*innen geleitetet werden.

MALMOE: Wie ist die derzeitige Situation von den geflüchteten Frauen, die im Maison Baobab in Rabat leben?

Emmanuel Mbolela: In Marokko gibt es immer noch Ausgangssperren aufgrund der Covid-19-Krise. Im März dieses Jahres haben wir entschieden, keine neuen Frauen mehr aufzunehmen – abgesehen von extremen Ausnahmefällen –, um diejenigen zu schützen, die schon bei uns waren. Wir haben vier Wohnungen, wo Frauen und ihre Kinder, ihre Babys untergebracht sind und eine Wohnung, die für Kurse, Alphabetisierungskurse und den schulischen Unterricht für Kinder genutzt wird. Aufgrund des Ansteckungsrisikos haben wir das bis Juni beibehalten. Im Juni haben wir wieder neue Frauen aufgenommen, die Wohnungen sind voll. Die Situation ist sehr schwierig. Wir haben aber trotz der anhaltenden Ausgangsbeschränkungen und der Grenzschließung unsere Hilfe fortsetzen können, insbesondere die Verteilung von Nahrungspaketen, Medikamenten, Kindernahrung. Aktuell sind 20 Frauen im Alter zwischen 19 und 40 Jahren und 19 Kinder in den angemieteten Wohnungen des Maison Baobab untergebracht. Sie kommen aus Zentral- und Westafrika, aus der Elfenbeinküste, Guinea, dem Kongo, Mali, und dem Senegal.

Welche Perspektiven gibt es, mittels Strukturen der Selbstorganisierung die Lage zu verbessern? Was macht ihr in dieser Hinsicht konkret, was wird von anderen Migrant*innen angeboten?

Wir organisieren Kurse, zum Beispiel Alphabetisierungskurse. Die meisten Frauen haben Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben, haben in ihrem Herkunftsland keine Schule besucht. Die Kurse sind aber nicht nur für die Frauen, die in den Wohnungen leben, sondern auch für andere migrantische Frauen in Rabat. Dann gibt es Nähkurse. Aktuell wird der Nähkurs von 20 Frauen besucht, da sind auch Frauen dabei, die aus der Peripherie von Rabat zum Kurs kommen. Die meisten Frauen haben keinen Beruf erlernt, Hausarbeit gemacht, aber es gibt unter ihnen eben auch einige Schneiderinnen, Friseurinnen, die ihr Wissen weitergeben können. Außerdem haben wir Theaterkurse, Nachhilfeunterricht für Schulkinder und Informatikkurse. Wie das praktisch organisiert ist: Der Alphabetisierungskurs findet an zwei Tagen in der Woche statt, Montag, Dienstag, der Nähkurs Mittwoch und Samstag. So haben die Frauen, die daran teilnehmen, zumindest vier Kurstage pro Woche. Wobei die Frauen noch Unterstützung brauchen, etwa dabei, eine andere Unterkunft zu finden, wenn sie das Maison Baobab verlassen. Manche Frauen bitten auch um Unterstützung, um sich ein eigenes kleines Geschäft aufbauen zu können, zum Beispiel als Friseurin oder als Marktverkäuferin. Außerdem gibt es schwangere Frauen, die Geld für Vorsorge-Untersuchungen brauchen und um die Krankenhaus-Kosten für die Geburt ihres Kindes bezahlen zu können. In Marokko muss man das alles bezahlen, da die Frauen keine Krankenversicherung haben. Und dann gibt es noch die Gebühren für die Geburtsurkunde, die auch zu tragen sind. Also das sind Bedürfnisse, die man vor Ort ganz klar spürt.

Wir haben darüber gesprochen, dass Europa seine Grenzen „externalisiert“, also dass sich die EU-Außengrenzen verschieben. Könnten Sie noch ein wenig darüber sprechen, welche Konsequenzen das für Geflüchtete hat?

Fakt ist, dass Europa seine Grenzen in die nordafrikanischen Staaten hineinverschiebt, das bedeutet, dass es in diesen Ländern sehr viele Kontrollen gibt, Mauern, Grenzzäune und so weiter, dass Migrant*innen nicht mehr in das Territorium der Europäischen Union gelangen und in Ländern wie Marokko, Algerien, Mauretanien, Libyen usw. festsitzen. Wie Sie wissen gibt es in diesen Ländern Probleme mit den Menschenrechten. Diese Länder respektieren die Menschenrechte nicht. Die Migrant*innen, die sich dort befinden, erleben viel Gewalt von Seiten des Staates und viele Grausamkeiten. Ich glaube, die Externalisierung des Grenzregimes der Europäischen Union hat viele Konsequenzen, aber die Frage ist, wie sich das eben auf die Rechte von Migrant*innen in diesen Ländern auswirkt.

Meine persönliche Meinung dazu: Anstatt Grenzen zu ziehen, müsste Europa stärker nach den Gründen fragen, warum diese Menschen gezwungen sind, ihre Länder zu verlassen. Ich denke, dass die EU ihre Hand mit im Spiel hat, was zum Beispiel die Unterstützung von Diktatoren und die Beteiligung an der Ausbeutung der Ressourcen betrifft. Um die Verantwortung für die strukturellen Ursachen der Migration, darum geht es.

Und: Für das Projekt Maison Baobab brauchen wir Menschen, die uns unterstützten, gerade jetzt in der Corona-Krise. Wir sind immer auf der Suche nach Unterstützer*innen, sei es als Partner*innen oder finanziell durch eine Spende. Migrant*innen sind von der Krise am schlimmsten getroffen und unter ihnen Frauen und Kinder am härtesten. In der aktuellen Situation kann ich auch keine Lesereisen antreten, über die wir bisher viel bewegen konnten.

Interview und Übersetzung aus dem Französischen: Marietta Mayrhofer-Deák

Buchtipp:

Emmanuel Mbolela (2018): Mein Weg vom Kongo nach Europa. Zwischen Widerstand, Flucht und Exil. Übers. v. Alexander Behr, mit einem Vorwort von Jean Ziegler. Mandelbaum Verlag, Wien

Aktuelle Kampagne:
Menschenrechte brauchen Gesetze! – Damit Lieferketten nicht verletzen. Treaty Alliance Österreich ist ein Zusammenschluss von Organisationen, die sich für die Schaffung verbindlicher Regeln für Unternehmensverantwortung zur Achtung der Menschenrechte und Umwelt einsetzen.