MALMOE

„[…] sondern auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden“

Semra Ertan verbrannte sich aus Protest gegen den zunehmenden Rassismus in Deutschland öffentlich am 24. Mai 1982 in Hamburg selbst. Sie erlag zwei Tage später ihren Verletzungen

Semra Ertan war Poetin, arbeitete als Dolmetscherin und Bauzeichnerin. Ihre Schwester Zühal Bilir-Meier hat im November 2019 auf dem NSU-Tribunal in Chemnitz einen Brief an ihre verstorbene Schwester öffentlich vorgelesen. Hier findet sich ein Abdruck des Briefes:

Meine liebe Schwester Semra,
37 Jahre sind vergangen, Du warst 25 Jahre alt, als Du Deinen kleinen, zarten Körper verbranntest aus Verzweiflung und Protest gegen den alltäglichen Rassismus. Aber Du hast uns nicht für immer verlassen, mehr als 350 Gedichte von Dir sind geblieben und werden heute wieder gelesen. Gedichte über Deinen Widerstand, Deinen Zorn, Deine Freude am Leben und – eines Deiner schönsten Gedichte – ein Gedicht über die Liebe.

Begegnung

Woher könnte ich denn wissen, dass du mich liebst,

wenn deine Augen nicht sprechen würden?

Könnte ich denn so was denken?

Bis gestern lief ich alleine durch die Straßen

und heute laufe ich Hand in Hand mit dir zusammen

Und liege in der Kneipe in deinen Armen,

vom gleichen Glas werden wir Liebe genießen

und zusammen glücklich sein,

mit manchen Nächten ohne Morgen

Woher könnte ich denn wissen,

dass ein Feuer entflammt

wenn deine Hände meine Hände berührt hätten?

Wenn ich nicht hören würde wie dein Herz schlägt,

könnte ich dich so sehr lieben?

Könnte ich solche Sehnsucht nach dir haben?

Der ganze Körper wie eine Flamme

Wo sind die vergangenen Jahre?

Ich habe gestern begonnen zu leben

Das was ich bin habe ich erst jetzt erfahren

Schön ist, dass dein Mund gesagt hat wie ich heiße,

Schön ist, dass ich nicht mehr so weit weg bin,

Schön ist, dass ich dich gesehen und geliebt habe,

Schön ist, dass ich geliebt wurde wie man es sich erträumt

Wer weiß, unter der Erde könnte ich mich wie ein Fluss verlieren,

Wenn du mich nicht finden würdest

Und ich dieses Gedicht nicht schriebe

Liebe Semra,

Du warst eine Einzelkämpferin, der Rassismus ist seither nicht weniger geworden. Aber heute sind wir eine starke Gemeinschaft. Und Deine Gedanken, Deine Gedichte helfen, unser Bewusstsein dafür zu schärfen, wo wir stehen, wogegen Widerstand Not tut und wo wir Verbündete finden. Heute wärest Du nicht so grausam allein wie damals. Mit Deinen Gedichten bist Du ein wertvoller Teil unseres Kampfes für ein besseres, ein menschenfreundliches Deutschland geworden. Vor Deiner mutigen Tat hast Du an den NDR und das ZDF geschrieben:

Ich möchte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben, wie Menschen zu leben, sondern auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden.

Die Luft ist schwer wie Blei, ich schrei ich schrei ich schrei … ich möchte zu Asche werden wie Kerem. Wenn ich nicht brenne, wenn du nicht brennst, wie soll die Dunkelheit dem Licht weichen. (Nâzım Hikmet)


Liebe Schwester Semra,
wie in diesem Gedicht von Nâzım Hikmet Licht bist Du zur Fackel geworden gegen Blindheit, gegen Dummheit und gegen Finsternis. Du bist nicht gestorben, Du und die vielen Opfer des Rassismus, Ramazan Avcı, Yeliz, Ayşe und all die anderen, sie leben weiter in uns, sie werden nicht vergessen, ihre Namen nicht ausgelöscht. Sie sind wie Sterne, die uns den Weg zeigen.

Eines Deiner Gedichte hat Eingang gefunden in Schulbücher und andere Veröffentlichungen. Es ist – Du bist – Teil unserer Geschichte, unseres kollektiven Bewusstseins geworden.

Mein Name ist Ausländer

Ich arbeite hier


Ich weiß, wie ich arbeite



Die Deutschen wissen es auch


Meine Arbeit ist schwer 


Meine Arbeit ist schmutzig. 


Das gefällt mir nicht, sage ich. 



„Wenn dir die Arbeit nicht gefällt,


geh in deine Heimat“, sagen sie.



Meine Arbeit ist schwer



Meine Arbeit ist schmutzig 


Mein Lohn ist niedrig



Auch ich zahle Steuern, sage ich.



Ich werde es immer wieder sagen, 


Wenn ich immer wieder hören muss 


„Suche dir eine andere Arbeit“.


Aber die Schuld liegt nicht bei den Deutschen



Liegt nicht bei den Türken.



Die Türkei braucht Devisen,

Deutschland Arbeitskräfte


Die Türkei hat uns nach Europa geschickt. 


Wie Stiefkinder 


Wie unbrauchbare Menschen. 


Aber dennoch braucht sie Devisen 


Braucht sie Ruhe.



Mein Land hat mich ins Ausland geschickt



Mein Name ist Ausländer.

Meine liebe Schwester Semra,
wegen Dir habe ich die Naturwissenschaft verlassen und bin Therapeutin geworden. Und meiner Tochter, 1986 geboren, habe ich Deinen Namen gegeben. Mit Filmen und Texten über Dich ist sie Deine starke Verbündete geworden.