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MALMOE

Die Zweiteilung 
der Welt überwinden

Ein Gespräch mit Bini Adamczak über Revolutionen, Leidenschaft und Geschlecht

2017 veröffentlichte Bini Adamczak ihr Buch Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende, das seitdem unermüdlich durch die deutschsprachige Linke gereicht wird. Am 30. April referierte Adamczak im Wiener w23 über ihr Konzept der Beziehungsweise und ihre Theorie der Revolution.

MALMOE: Du analysierst die Revolutionen von 1917 und 1968 vor dem Hintergrund der Parole der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit und Solidarität (als feministische Wendung der Brüderlichkeit). Warum bilden diese Grundsätze deinen Analyserahmen?

Bini Adamczak: Die Französische Revolution ist die erste Revolution, in der die Menschen erkennen, dass sie Gesellschaft gestalten können. Dass sie nicht nur innerhalb der bestehenden Rahmen Veränderungen vornehmen können, sondern den Rahmen selbst verändern können. So definiere ich Revolution. Nicht als Politik unter vorgefundenen Bedingungen, sondern als die Politisierung dieser Bedingungen – also ihre Transformation oder Revolutionierung. Meiner Interpretation nach ist „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“ eine normative Orientierung, die den Hintergrund bildet für die Revolutionen des 20. Jahrhunderts. Diese Revolutionen versuchen jeweils einen dieser Begriffe zu realisieren. Dabei sind sie auf spezifische Weise erfolgreich, scheitern aber zugleich. Die Revolution von 1917 fokussierte auf Gleichheit, die Revolution von 1968 auf Freiheit, erstere auf Einheit, letztere auf Differenz. Die Solidarität wird in beiden Revolutionen angerufen, aber wieder vergessen – weil es schwerfällt zu verstehen, was Solidarität ist oder sie in rationalen Begrifflichkeiten auszudrücken. Solidarität ist eher im Kulturellen, im Träumerischen und Verträumten verortet und wird deshalb oft in den Bereich des Rauschs oder des Wahnsinns abgedrängt. Deshalb ist es wichtig, sie heute wieder zu bergen und als Anspruch ernst zu nehmen.

Die kommende Revolution soll also die Solidarität ins Zentrum stellen. Was bedeutet das aus einer feministischen Perspektive?

Es stellt sich die Frage, ob Solidarität nicht ohnehin ein Begriff ist, der sehr stark in einer feministischen Tradition steht, weil er stärker als Freiheit und Gleichheit ein affektiver, emotionaler Begriff ist. Solidarität meint ein Beziehungsgeschehen, einen bestimmten, zärtlichen Typus von Bindung. Die Affektivität weist darauf hin, dass die Spaltung der Welt in den Bereich der Rationalität und Irrationalität oder in den Bereich der Nahbeziehungen (z. B. der Familie) und der Fernbeziehungen (z. B. der Politik, des Staates) nicht aufrechterhalten werden kann. Nur eine Politik, die in der Lage ist, genau diese Zweiteilungen der Welt zu überwinden, ist zukunftsweisend.

Im Gegensatz zu klassischen Revolutionstheorien nimmt Geschlecht einen zentralen Stellenwert in deiner Analyse ein. Warum steht in der Rezeption deines Buches das Geschlechterverhältnis nicht so stark im Fokus?

Es stimmt, dass in der Rezeption, auch im akademischen Kontext, die Geschlechterverhältnisse oft unter den Tisch fallen. Anfangs hatte ich überlegt, das Buch Das Geschlecht der Revolution zu nennen. Allerdings ist bei so einem Titel die Gefahr groß, in eine Sparte zu fallen und darin stecken zu bleiben. Doch Feminismus darf kein Spartenthema sein. Er ist eine bestimmte Perspektive, die alle politischen Themen betrifft. So habe ich mich der Revolutionstheorie genähert. Es geht nicht um eine Frauenfrage und nicht um eine Geschlechterfrage, die von geschlechtlichen Subjekten und damit einhergehenden Charaktereigenschaften handelt, sondern um Geschlecht als ein gesellschaftliches Verhältnis. Es geht um das Geschlecht von Institutionen, von Staaten, von historischen Epochen oder eben auch von Revolutionen. Geschlechterverhältnisse sind eben Verhältnisse, die zwischen den Fernbeziehungen und den Nahbeziehungen vermitteln; also genau zwischen den Sphären des Staates oder der Fabrik und den Sphären der Familie oder der Intimität. In den Revolutionen des 20. Jahrhunderts geht es darum, das Verhältnis dieser Sphären neu zu verhandeln. Dadurch stehen geschlechterpolitische Fragen im Zentrum dieser Revolutionen.

Aktuell werden Klassenverhältnisse in der Linken wieder mehr ins Zentrum gesetzt. Siehst du darin die Gefahr einer Rückkehr von Haupt- und Nebenwiderspruchsdebatten, die queer-feministischen Forderungen entgegenstehen?

Ich würde der Kritik zustimmen, dass ökonomische Fragen bzw. Klassenfragen in den letzten Jahren zu wenig diskutiert und problematisiert wurden. Daraus den Schluss zu ziehen, dass alle Erkenntnis der letzten 30 Jahre über Bord geworfen werden muss, ist eine Politik, die ich als „Das Kind mit dem Bade ausschütten“ bezeichnen würde. Jegliche Möglichkeit der Verbindung dieser Kämpfe und Erkenntnisse wird ausgeschlagen. Für mich ist extrem überraschend, dass es immer wieder diese Gegenüberstellung von Materialismus und Queer-Feminismus gibt, weil ich so wie viele andere immer genau an dieser Schnittstelle arbeite. Schon in den 1970er-Jahren gab es feministische Autorinnen, aber auch schwule Theoretiker, die Kapitalismuskritik und eine Analyse von sexuellen und geschlechtlichen Verhältnissen unmittelbar zusammendachten. Wenn diese Perspektiven in einem linken Distinktionskampf gegeneinander diskutiert werden, führt das zu einem Mangel an Erkenntnis. Wir verstehen Kapitalismus nicht richtig, wenn wir ihn ohne eine queer-feministische Perspektive analysieren und wir können auch von Geschlecht nichts verstehen, wenn wir es nicht als ein ökonomisches Verhältnis analysieren. Das Gleiche gilt für Rassismus.

Ähnlich verstehe ich den Konflikt zwischen Klassen- und Identitätspolitik. der eine Wiederaufführung der historischen Konstellation 1917 versus 1968 ist. Ich glaube, diese Auseinandersetzung ist extrem unproduktiv, weil sie schon in der Fragestellung falsch ist. Klassenpolitik ist historisch identitätspolitisch geführt worden, im revolutionären, aber auch im restaurativen Format, z. B. die Parole „Reih dich ein, weil du auch ein Arbeiter bist“. Das ist eine identitäre Anrufung eines politischen Subjektes. Gleichzeitig gibt es feministische, antirassistische oder antisemitismuskritische Politik, die überhaupt nichts mit Identitäten zu tun hat, sondern ganz klar auf gesellschaftliche Strukturen abzielt, auf Machtverhältnisse, auf Ressourcen, auf deren Aneignung und Demokratisierung.

Warum machst du den Begriff Beziehung so stark? Wie unterscheidet er sich von jenem des Verhältnisses?

Der Begriff des Verhältnisses ist in einer linken Alltagssprache geläufig: „Gegen die Verhältnisse“ oder „Kritik der Verhältnisse“. Genauer betrachtet wird „Verhältnis“ ähnlich verwendet wie „System“: das Schweinesystem. Das ist bereits eine verdinglichte Perspektive. Die Verhältnisse werden nicht als Beziehung, als ein relationales Gefüge verstanden, sondern als ein Block, ein System, ein Gegenüber. Das ist einer der Gründe, warum ich den Begriff der Beziehung bevorzuge. In einer dialektischen Tradition ist der Begriff Verhältnis zudem nicht selten verengend, da er zwei Pole braucht, zwischen denen er vermittelt. Die Öffnung, die durch 1968 und poststrukturalistische Theorien ermöglicht wurde, versucht über „Vielheiten“ zu denken, also in Relationen von drei und mehr. Das macht das Denken beweglicher als die dualen Vermittlungen.

Der andere Grund, warum ich den Begriff Beziehung mag, ist, weil er aus der Sphäre der Reproduktion kommt. Dies birgt ein bestimmtes Missverständnis in der Rezeption von Beziehungsweise Revolution, da es verstanden wird, als würde ich bloß an Mikrobeziehungen anknüpfen wollen. Die Revolution beginne in der WG-Küche und breite sich von dort aus. Aber die materialistisch-queer-feministische Pointe ist gerade andersrum: Die Ware, das Geld, der Kredit, das Kapital, der Staat, die Bürokratie, das Recht – das alles sind Beziehungen. Beziehungen die Menschen, Dinge, andere Lebewesen miteinander verbinden und voneinander trennen.

In deinen Büchern schreibst du über „kommunistisches Begehren“. Was bedeutet Begehren für deine Theorie und Praxis?

Beim Schreiben des Buches Kommunismus für Kinder wollte ich herausfinden, wie Theoretiker*innen des Kommunismus, speziell Karl Marx, die kommunistische Gesellschaft konzipiert haben. In dieser Auseinandersetzung bin ich in eine Schreibblockade geraten, da ich über die Frage des Kommunismus nicht in einer akademischen Sprache schreiben kann – einer Sprache, die von Begehren, Subjektivität, von Wünschen, von Wollen bereinigt ist. Die Frage, in welcher Welt wir leben wollen, ist eine Frage des Begehrens und der Sehnsucht. Das ist auch die Kraft, die in Revolutionen wirkt und sie so attraktiv macht. Die Leidenschaft wird in der Politik wirksam. Die Frage, die in der emanzipatorischen Politik verhandelt wird, ist nicht, was die vernünftigste, die effizienteste oder die produktivste Welt ist. Sondern die Welt, die das Leiden, das wir in der Gegenwart erleben, beendet, ist jene, die nach unseren Bedürfnissen eingerichtet ist – eine Welt, die wir Kommunismus nennen. Leidenschaftlichkeit und Affektivität in der Politik als etwas per se Problematisches oder Rechtes zu verstehen, das notwendigerweise in der Volksgemeinschaft landen würde, ist aus feministischer Perspektive ein absoluter Fehler.

Dein Buch und auch dein Vortrag wecken Hoffnung. Du formulierst eine solidarische Kritik linker Praxis und Theorie. Wofür oder wogegen sprichst du dich damit aus?

Ich schätze den Kritikbegriff der Kritischen Theorie: Kritik bedeutet, den Gegenstand der Kritik möglichst stark zu machen, seinen Anspruch redlich zu rekonstruieren, den Impuls darin aufzunehmen, der vielleicht produktiv ist, aber zudem verunklart oder vereinseitigt wurde. Es ist kein bloßes Bashing der Gegner*innen. Da niemand Zugang zu Objektivität hat, aber auch niemand in einer eigenen Welt lebt, müssen wir unterschiedliche Perspektiven zusammenkommen lassen, um universelle Wahrheit formulieren zu können – in der Kollektivität.

Es besteht die Gefahr, durch das Schwafeln von der großen Weltrevolution nur das eigene stinklangweilige bürgerliche Leben zu legitimieren und sonst nichts zu machen. Statt sich einzugestehen, dass man Angst hat und Wege finden muss, damit umzugehen, rationalisiert man vielleicht noch die eigene Feigheit und denunziert die Leute, die sich trauen, über diese Feigheit hinaus zu gehen.

Die gegenteilige Gefahr ließ sich in der Geschichte oft beobachten: Menschen konzentrieren sich so sehr auf das Kleine und Erreichbare, dass sie die äußeren Zwänge vergessen und die Kritik schon im eigenen Kopf beschneiden.

Statt platte vereinseitigende Positionen einzunehmen, finde ich es wichtig, genau dieses Vermittlungsverhältnis zu verstehen: Wie lässt sich radikale Politik im Alltag realisieren, die gleichzeitig weiß, dass sich Nahbeziehungen – mit der Nachbarin – nur nachhaltig transformieren lassen, wenn die Fernbeziehungen – mit dem Weltmarkt – ebenfalls transformiert werden?