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MALMOE

Heimweh nach Vineta

Koordinaten #2

Die vierteilige Serie Koordinaten stellt Positionen unterschiedlicher Exilerfahrungen aus der Zeit von 1938 bis 1940, also in direkter Folge an den „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland, anhand literarischer Texte vor und kontrastiert sie mit aktuellen Reflexionen und Einschätzungen. Die hier erstmals einem breiten Publikum zugänglich gemachten Quellen stammen aus der Österreichischen Exilbibliothek im Literaturhaus Wien. Die in Sprache und Gestus oftmals sehr deutlich in ihrem Entstehungszeitraum verankerten Beispiele verhandeln auf literarischem Wege Fragen und Problematiken, die zu reflektieren ein Anstoß ist, den die Reihe geben will. Unabhängig davon ob Kurzerzählung, Tagebucheintrag oder Erfahrungsbericht – die Textserie bietet Einstiege in Sammlungen, die entdeckt werden wollen. Nicht zuletzt deshalb versteht sich ­Koordinaten als Einladung zu Auseinandersetzung, Diskurs und vor allem auch: Lektüre.

Kuratorische Betreuung: Veronika ­Zwerger (Österreichische Exilbibliothek/Literaturhaus Wien) & Thomas Ballhausen (Presse­dokumentation/Literaturhaus Wien)

Alice Penkala: Heimweh nach Vineta

Manuskript ohne Datum aus dem Nachlass von Alice ­Penkala, (N1.EB-41/7.5.1.)

Die Stadt ist versunken. Ich habe es selbst gesehen, wie brauner Schlamm und Flut, gekrönt von Dreck, in die Straßen stürzte. Unrat ist zusammengeschlagen über der Stadt. Sie ist versunken. Ja, Achmed, ich war dabei, wie die Haifische ihre breiten Mäuler packten, um sie zu verschlingen. Die Stadt ist versunken. Versunken mit all ihren Gärten, ihrer Schönheit, ihrer Musik. Versunken mit ihr ist alles Recht, alle Menschlichkeit, alles Eigenleben der Stadt. In ihren Straßen herrscht das Recht des Haifischs. Menschen? Ich möchte Dir lieber nicht erzählen von den Menschen. Es tut noch zu weh. Es ist alles noch zu wund und zu häßlich in mir, o Gastfreund.

Du hast als Kind schon Märchen von Vineta gehört, von der versunkenen Stadt am Grunde des Meeres, die manchmal im Mondlicht auftaucht… Das ist Unsinn, Achmed. Die Stadt ist versunken. Und sie wird nie mehr auftauchen. Nie mehr. Vielleicht wird noch einmal etwas von ihrem Glanz in einer Symphonie, etwas von ihrer Musik in einem Gedicht ertönen. Aber Vineta selbst ist und bleibt tot. Auch wenn die braune Dreckflut abzieht, wenn die Haifische getötet werden,… es werden wieder Blumen wachsen in den Gärten Vinetas, die Glocken ihrer Kirchen, die verstummt sind unter den Fluten, werden läuten, die blinden Fenster werden aufgetan werden… aber es wird nicht mehr Vineta sein. Und mein Heimweh, mein irrsinniges Heimweh nach der Stadt wird bleiben.

Du bist reich. Du hast noch eine Heimat. Du weißt gar nicht, wie viel das ist. Du weißt nur, daß Du zuhause bist, hier, in dieser weißen Stadt am Meer, alles ist vertraut für Dich, was mir hier fremd ist: die Kacheln in Höfen und Kammern, die violetten, roten und goldenen Früchte auf dem Markt, die Palmenbäume und die verschiedenen Töne von blau, die Himmel und Meer von morgens bis abends durchlaufen. All das ist Deine Heimat. Und all das ist nicht Heimat. Heimat? Was ist Heimat? Vielleicht, im Großen das, was ein Elternhaus im Kleinen ist. Ja, Heimat und Heim… ist es nicht der gleiche Wortstamm? Ein Ort, an dem man zuhause ist, gegen den man Pflichten hat, aber in dem man berechtigt ist, zu sein. Das wird man Dir nie nehmen können, denkst Du, Achmed… Hoffentlich. Mir, siehst Du, mir haben sie die Heimat genommen. Sie haben mich aus dem Haus, das meine Urgroßväter gebaut, hinausgejagt wie einen diebischen Bettler. Ich habe kein Recht dort, wo ich mein Leben lang zuhause war. Jedes Menschenrecht ist verstummt. Das Recht des Haifischs herrscht in den Straßen von Vineta. Denn die Stadt ist versunken. Und niemals, niemals mehr wird Vineta Vineta sein.

Kontexte: Alice Penkala, geb. Rosa Alice Krausz (Wien 1902 – Antibes 1988), veröffentlichte bereits während ihrem Jusstudium Glossen, Gedichte und Kurzgeschichten in Satire-Blättern wie der Muskete. Nach ihrem Studium übernahm sie die Gerichtssaalberichterstattung für das Wiener Blatt Der Abend. 1938 flüchtete sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft nach Tanger, wo sie die Kriegsjahre unter schwierigen finanziellen Bedingungen überstand. Bereits vor der Emigration ließ sie sich zur Kosmetikerin ausbilden, in Tanger arbeitete sie unter anderem als Kartenlegerin und betrieb ein Restaurant. Die Lebensumstände der ExilantInnen in Marokko sind Thema vieler ihrer Erzählungen aus dieser Zeit. Auch ihr Roman Bilder aus dem Leben der Hyänen, den sie auf Anregung ihres Literaturagenten in Schokolade für das Afrika-Corps umbenannt hatte, spielt in der Emigrantengemeinde von Tanger.

1943 heiratete Alice Stany Penkala, mit dem sie 1946 nach Europa zurückging. Von Südfrankreich aus versuchte sie mit Hilfe von Literaturagenten als Schriftstellerin Fuß zu fassen. Einer davon war Joseph Kalmer (1898 Nehrybka, Galizien – 1966 Wien). Der Journalist und Übersetzer emigrierte 1938 über die Tschechoslowakei nach Großbritannien, wo er unter anderem für die Exilzeitschrift Zeitspiegel arbeitete. Ab 1945 betrieb er mit seiner Frau Erica die Agentur Kalmer. Über diese und andere Agenturen gelang Alice Penkala die Verbreitung ihrer Fortsetzungsromane, Kurzgeschichten und Reportagen im ganzen deutschsprachigen Raum unter zahlreichen Pseudonymen wie z. B. Anneliese Meinert, Robert Anton oder Sebastian. Ab 1960 erschienen vermehrt auch ihre Romane – meist Unterhaltungsliteratur – in Buchform. Ein Großteil ihrer Manuskripte zum Thema Faschismus und Exil wurden bisher nicht veröffentlicht. Im ihrem Nachlass (N1.EB-41), der seit 2006 in der Österreichischen Exilbibliothek ist, finden sich nach wie vor unpublizierte Erzählungen. Erst im Herbst 2016 erschien ihr Exil-Roman Schokolade für das Afrika-Corps.

Literaturhinweis:
Ursula Seeber-Weyrer: „‚Obwohl ich immer Österreicherin sein werde …‘
Elisabeth Janstein (1893–1944): ‚Suchvorgänge für eine literarische Biografie‘, in: Charmian Brinson, Richard Dove, Anthony Grenville, u.a. (Hg.): „Keine Klage über England? Deutsche und österreichische Exilerfahrungen in Großbritannien, 1933–1945“, München: iudicium 1998, S. 137–156