MALMOE

„Ich bin nicht nur meine Krankheit“

Ein Gespräch über Erfahrungen mit dem Kranksein

Wir wissen wenig über die Realität von Menschen, die mit Krankheit leben. Krankheit wird in der Öffentlichkeit kaum verhandelt, in der Schule lernt man nicht, wie es ist, krank zu sein, oder wie man jemanden begleitet, der krank ist oder vielleicht sogar im Sterben liegt. Auch Care-Arbeit findet selbst im kritischen Diskurs nur zögerlich Einzug. Deshalb haben wir uns entschieden ein Interview mit zwei Freund:innen zu führen, die mit Krankheit leben.

MALMOE: Wie hat sich durch euer Kranksein euer Blick auf die Gesellschaft verändert?

L: Im Beruf habe ich die Erfahrung gemacht, solange du funktionierst, gehörst du dazu, bist du relevant. Als ich krank wurde, wurde ich direkt gefragt, wen stellen wir statt dir ein? Ich hätte mir mehr Empathie erwartet. Es ging dann sehr schnell, innerhalb eines Monats wurde ich rausgekickt. Als wäre es nicht schon genug gewesen, sich in diesem Moment mit der Diagnose auseinanderzusetzen, musste ich mir auch überlegen, wie ich das finanziell schaffe. Für viele bedeutet Kranksein auf lange Sicht Prekariat. Ohne Support von der Familie, von Freund_innen hätte ich das nicht geschafft. Die haben sich um alle Anträge gekümmert. Ohne Netz besteht die Gefahr, dass man abrutscht.

K: Dabei braucht man gerade, wenn man krank ist, oft mehr Geld. Stichwort Wahlärzt_innen, Spezialist_innen. Wenn dir die 15 Minuten Physiotherapie, die die Kasse übernimmt, nicht ausreichen, musst du alles, was darüber hinausgeht, selbst finanzieren. Das geht ins Geld.

L: Der Verlauf von Krankheiten ist nicht planbar, wodurch sich auch die künftige finanzielle Situation nicht abschätzen lässt. So baut sich Druck auf. Mein Arbeitgeber hat mir die Frage gestellt, ob ich zu diesem oder jenem Zeitpunkt wieder einsatzfähig sein werde. Verständlich aus seiner Sicht, er muss sich darauf einstellen, was kommt. Aber ich hatte weder den Kopf dafür, noch konnte ich die Frage beantworten, weil der Verlauf meiner Krankheit ja nicht planbar war.

K: Als Selbstständige wird einer suggeriert, dass man sich in einem Feld der unendlichen Möglichkeiten bewegt. Doch wenn man wie ich ein chronifiziertes Leiden hat, wird man schnell in die Enge getrieben. Wenn ich zwei Tage im Bett liege, staut sich die Arbeit auf. Das muss ich dann mit den Ressourcen kompensieren, die ich eigentlich brauchen würde, um mich zu erholen. Man fühlt sich alleingelassen. Das führt zu Existenzsorgen – Was ist in einem Jahr? Kann ich das, was ich mir gerade aufbaue, überhaupt die nächsten fünf Jahre tragen?

Inwiefern kommuniziert ihr euren Arbeitgeber_innen, dass ihr aufgrund eurer Krankheit nicht auf die gleiche Art und Weise planen könnt?

K: Aus der Sicht der Selbstständigkeit heraus, fahre ich die Strategie des Verschweigens. Ich sage nie, dass es ein chronisches Leiden ist, sondern dass ich krank sei oder sich ein anderer Termin verschoben hätte – selbst bei Kund_innen, zu denen ich eine gute Beziehung habe. Ich habe Angst, den Stempel aufgedrückt zu bekommen: „Die ist nicht zuverlässig. Wenn man die bucht, kann immer was sein.“ Es belastet mich, nicht sagen zu können, was bei mir eigentlich los ist. Es hätte was Befreiendes, zu seiner Krankheit zu stehen.

L: Durch die Kündigung muss ich wieder neu einsteigen und mich bewerben. Da stellt sich jedes Mal die Frage, ob ich sage, dass ich gerade eine Krebserkrankung überstanden habe. Ich habe mich dafür entschieden. Das hat dazu geführt, dass beim Bewerbungsgespräch alle sehr hilfsbereit und empathisch waren, um mir dann eine nette Absagemail zu schicken. Was soll ich sagen, von einer netten Absage hab‘ ich auch nix!
Ich habe beobachtet, dass wenn über Krankheit gesprochen wird, sich der Diskurs schnell Richtung Selbstverantwortung verschiebt, anstatt ihn auf struktureller Ebene zu führen. Leiden wird individualisiert. Teilt ihr diese Beobachtung?

K: Ich finde, umso komplexer und uneindeutiger Beschwerden sind, desto eher wird die Krankheit individualisiert. Einen Beinbruch verstehen alle und wissen, was sie zu sagen haben. Ich habe Endometriose, eine Krankheit, die schlecht erforscht und noch dazu eine Frauenkrankheit ist. Man weiß nicht einmal, ob es sich um eine Autoimmunerkrankung oder einen anderen Krankheitstyp handelt. Fest steht, dass es ein chronisches Beschwerdebild ist, das mit sehr unterschiedlichen Symptomen einhergeht. Umso schwieriger ist es zu erklären, dass es eben nicht einfach starke Regelschmerzen sind, sondern eine Krankheit, die Folgeerkrankungen und Infertilität mit sich bringen kann. Bis zur richtigen Diagnose vergehen durchschnittlich acht Jahre. Die schlechte Erforschung und die geringe Bekanntheit meiner Krankheit fallen regelmäßig auf mich zurück. Selbst in Arztpraxen habe ich immer wieder gehört, dass ich mich einfach mehr entspannen soll. Ich habe mir oft die Frage gestellt, was ich falsch gemacht habe. Es kann doch nicht sein, dass alle herumlaufen, wenn sie ihre Tage haben, und ich fast krepiere. Habe ich mich falsch ernährt? Habe ich zu viel Party gemacht? Gleichzeitig impliziert die Frage, was ich falsch gemacht habe, auch die Frage, was ich verbessern kann. Es ist reizvoll, mit dem Gedanken zu spielen, ich könnte eine Lösung finden, selbst wenn mir die Medizin nicht viel anbieten kann. Darin liegt ein kleiner selbstermächtigender Aspekt. Ich nehme mir manchmal vor, mich an alle Ernährungsvorschriften zu halten und regelmäßig Sport zu machen. Im Endeffekt mache ich das dann nie, weil das zu viel Aufgabe ist und ich ja auch sonst noch ein Leben habe.

L: Auch ich habe mir die Fragen gestellt: Warum ich? Was habe ich gemacht? Hab’ ich jetzt Darmkrebs, weil ich zu viel Alkohol getrunken habe oder weil ich nur Scheiß gegessen habe? Dabei weiß ich, dass es zig Ursachen für Krebs gibt, allen voran Pech und genetische Disposition. Durch die Krankheit habe ich einen neuen Bezug zu mir aufgebaut, ich nehme jetzt Dinge bewusster wahr. Das kann aber genauso ins andere Extrem umschlagen.

Auf kollektiver Ebene drückt sich diese Vorrangstellung der Selbstverantwortung oft in Form von Ratschlägen aus: „Mach das, dann geht es dir besser.“ Wie geht ihr damit um?

L: Mir hat die Krankheit geholfen, besser Entscheidungen zu treffen. Vor der Krankheit habe ich oft gehadert. Jetzt bekomme ich ca. 1500 Ratschläge täglich, einer besser als der andere. Das ist ein Setting, in dem man lernt, Strukturen aufzubauen, die für einen selbst funktionieren.

K: Am Ende des Tages bist du ja auch die, die das alleine trägt. Da ist es wichtig, einen Weg zu finden, der für dich passt, auch wenn dieser dann sehr schmal wird. So gesehen finde ich eigentlich alle Ratschläge anmaßend.

Was wünscht ihr euch von anderen?

K: Ich wünsche mir einen offenen und ehrlichen Umgang. Ich erwarte nicht von meinem Gegenüber, meine Situation für mich zu lösen. Man kann mich alles fragen, und ich sage dann so viel ich sagen will. Noch besser, man kann mich fragen, passt dir das grad? Oder kann ich was für dich tun?

L: Ich verstehe, dass eine Krankheit Überforderung auslösen kann. Aber ich finde es problematisch, wenn Menschen gleich ein unverrückbares Bild im Kopf haben, wenn sie meine Diagnose erfahren. Viele schließen daraus, dass es mir extrem schlecht gehen müsse, obwohl sie mich gar nicht gefragt haben, wie es mir geht oder was ich brauche. Zum Beispiel wurde ohne mein Wissen eine Spendenaktion zu meinen Gunsten gestartet. Oder was mir mit einem Freund passiert ist: Der hat zu mir gesagt, jetzt in deiner Situation musst du auf jeden Fall eine Psychotherapie machen. Das fand ich sehr übergriffig. Gleichzeitig löst die extreme Betroffenheit anderer Personen in einer aus, dass man als eigentlich betroffene Person das Gefühl hat, das ausgleichen zu müssen. Etwa zeigen muss, dass es einer gut geht, einfach um das Gegenüber zu beruhigen, selbst wenn es einer in diesem Moment gar nicht gut geht.

K: Bei Endometriose haben die Leute kein Bild von der Krankheit. Und wenn, verbinden es die meisten mit Regelschmerzen. Sie sagen dann „Ah, sie hat Bauchweh“. Bauchweh hört sich süß an, man liegt gemütlich im Bett und hat ein bisschen Bauchweh. Das empfinde ich als Bagatellisierung. Bei Krankheiten, die kein Bild auslösen, wird von der Betroffenen viel Erklärungsarbeit abverlangt, wozu ich grundsätzlich bereit bin, was aber auch manchmal anstrengend ist.

Ihr seid beide im Kunstkontext unterwegs, einem Feld, das geprägt ist von Selbstoptimierung, Flexibilisierung und Eigenverantwortung. Verhandelt ihr euer Kranksein in eurer Kunst?

L: Unmittelbar nach der Diagnose war ich wie ausgeschaltet und habe erst nach einiger Zeit wieder angefangen zu malen. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich meine Krankheit unbewusst in meine Bilder eingebaut habe. Ich mache abstrakte Malerei. Auf meinen Bildern ist immer wieder ein Störelement in Form einer grünen Ellipse aufgetaucht, über Monate hinweg. Mit dem Ende der Chemotherapie wurde es schließlich immer kleiner. Da wurde für mich klar, das ist der Tumor. Zurzeit bin ich tumorfrei und die grüne Ellipse ist auf den neuen Bildern nicht mehr sichtbar. Ich brauche diese Art von Ritualen, um mich zu lösen. Umgekehrt war die Zeit im Atelier auch eine befreiende Zeit, eine Zeit, in der der Tumor zumindest nicht mehr so präsent war. Ich habe gerade in der intensiven Phase meiner Behandlung versucht, Ausstellungen zu machen. Wahrscheinlich um mir zu zeigen, dass ich es noch kann, dass ich nicht nur die Krankheit bin. Nach außen zu treten war schwierig: Ich konnte anfangs schlecht abschätzen, ob die Leute zu meiner Ausstellung kommen, weil sie sich für meine Kunst interessieren oder weil ich ihnen leidtue. Da spielt natürlich meine eigene Unsicherheit mit rein. Am ersten Ausstellungsabend war es für mich schwierig abzuschalten. So arg konfrontiert mit meiner Krankheit habe ich mich nie wieder gefühlt. Im Endeffekt war es aber für mich total wichtig, diesen Schritt zu setzen, um zu heilen.

Was meinst du mit heilen?

L: Ich bin ein konfrontativer Mensch und für mich liegt eine Form der Heilung in der Konfrontation. Mit der Visualisierung des Tumors und den Ausstellungen wollte ich ein Gespräch initiieren, wenn auch nicht bewusst. Gleichzeitig kam Angst in mir hoch, ich habe mich bloßgestellt gefühlt. Ich habe eine Krankheit, die in der Gesellschaft weit verbreitet ist, meist aber nur innerhalb der Familie verhandelt wird. Damit in die Öffentlichkeit zu treten, bedeutet für mich eine wichtige und befreiende Auseinandersetzung.

K: Es geht auch darum, in Austausch mit anderen Betroffenen zu kommen. Das Gefühl loszuwerden, mit seiner Krankheit alleine zu sein. Es ist schade, dass oft die Vernetzung der Betroffenen untereinander fehlt, aber auch, dass es keinen Konsens darüber gibt, wie man über Krankheit reden kann.

Auf was führt ihr diese Angst, Krankheit öffentlich zu verhandeln, zurück?

L: Diese Angst hat viele Facetten. Eine zentrale Facette ist, dass die Krankheit aufzeigt, dass man gebrechlich, von anderen abhängig, auf Hilfe angewiesen ist. Wir haben gelernt, dass Stärke zeigen in unserer Gesellschaft sehr wichtig ist. Das führt dazu, dass das Thema Krankheit schambehaftet ist und folglich, dass man sich für seine Krankheit schämt.

K: Es schmerzt, die Illusion der Unversehrtheit aufzugeben. Man hat nicht per se ein Bild von sich selbst als gebrechliche Person. Wir haben uns mit dem Altern auseinandergesetzt, es ist Teil unserer Kultur, nicht aber mit dem Kranksein. Das hat im Diskurs keinen Platz. Die Leute wollen nicht über Krankheit reden, sie wollen am liebsten gar nichts damit zu tun haben. Das Es-trifft-immer-nur-die-anderen-Prinzip kommt zum Tragen.

L: Ich glaube, das ist überhaupt eine sehr österreichische Mentalität. Sich nicht mit Dingen, die einer nicht taugen, auseinanderzusetzen, sie unter den Tisch zu kehren: Wenn man nicht darüber spricht, ist es nicht wahr.