MALMOE

Venezuela, ein Land der Leere

Über die Effekte der Emigration während der venezolanischen Staatskrise

Unsere Autorin Francesca Bonalda lebt und arbeitet derzeit in Caracas. Aufgrund eines mehrtägigen, flächendeckenden Stromausfalls in Venezuela konnte der Artikel bis Redaktionsschluss nicht fertiggestellt werden. Er ist daher in fragmentarischer Form abgedruckt.

Im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Staatskrise in Venezuela haben ungefähr vier Millionen Menschen (fast 15 Prozent der Bevölkerung) das Land verlassen. 2018 flohen jeden Tag im Durchschnitt an die 5000 Menschen. In den nächsten Monaten werden die Zahlen wohl weiter steigen. Es wird geschätzt, dass Ende 2019 ungefähr 5,3 Millionen Einwohner*innen, und somit jede*r sechste*r Venezolaner*n, emigriert sein wird.

Es werden viele Debatten zu dieser Migrationskrise geführt, dabei jedoch wichtige Fragen vernachlässigt. Was sind eigentlich die Effekte dieser Migrationswelle in Venezuela selbst? Wie sehen die Städte aus, die so viele Einwohner*innen verloren haben? Wie verändert die massive Migration die venezolanische Kultur und Gesellschaft und wie erleben die Menschen die „Leere“, die sie hinterlässt?

Leben im Ausnahmezustand

Angela, eine venezolanische Architektin, erzählt mir: „Die Familien werden auseinandergerissen und ihre Verbindungen zerbrochen“. Über 60 Prozent der venezolanischen Haushalte haben mindestens ein Familienmitglied im Ausland. Angela ist Tochter immigrierter italienischer Eltern. „Ich habe zu Hause immer Italienisch gesprochen. Jetzt spreche ich die Sprache nicht mehr, denn meine Familie ist nicht mehr hier.“

Das freiwillige oder erzwungene Exil schafft einen permanenten Angstzustand und hat zur Folge, dass langfristiges Planen nicht möglich ist. „Wie kann man hier etwas aufbauen, wenn es jeden Tag sein kann, dass die Situation unerträglich wird und man das Land verlassen muss?“, fragt Oriana, eine junge Frau, die vor zwei Jahren ihr Studium abschloss und nun von einem sehr geringen Gehalt lebt.

Die meisten Venezolaner*innen haben einen Plan B für den Fall, dass die Lage eskaliert. Das Versprechen, ein neues, einfaches Leben an einem anderen Ort anzufangen, ist für viele sehr verlockend; Gedanklich ist man stets bereit, die Idee in die Realität umzusetzen. Diese potentielle Möglichkeit hilft sogar oft, Ruhe zu finden. Sie verändert aber ebenso die Einstellung der Menschen, da sie jederzeit kompromissbereit sein müssen.

Alles kann nur für den nächsten Augenblick geplant werden. So beklagt eine meiner Freundinnen, dass ihr die alltäglichen Umstände keinen Platz zum Denken lassen. „Nur in den Supermarkt zu gehen, das raubt dir so viel Kraft und Zeit. Das ist Zeit, die du sonst dazu verwenden könntest, Probleme zu lösen“, sagt sie. Es gibt Leute, die lassen sich dadurch mehr und andere, die lassen sich davon weniger beeinflussen. Dennoch: Die gesamte Gesellschaft wird durch dieses Leben im Ausnahmezustand bestimmt.

Somit ist die Eigenschaft, immer nach anderen Wegen zu suchen, ein Teil der venezolanischen Identität geworden. Angela erzählt weiter: „Um hier zu bleiben, braucht man eine besondere Einstellung. Man muss bereit sein, Risikos einzugehen. Wenn man damit nicht gut umgehen kann, sollte man gehen. Man muss sich psychologisch vorbereiten, damit die Situation einem nicht zu nahe kommt und der Druck zu groß wird.“

Geisterstadt Caracas

Durch die Straßen von Caracas zu laufen, bedeutet, räumliche Leere zu erleben. Wohnungen, Häuser, Läden wurden verlassen. Gelegenheiten für spontane, soziale Interaktionen sind sehr selten. Die Angst vor der Kriminalität und der Mangel an Verkehrsmitteln hat die Mobilität der Menschen und ihre Präsenz im öffentlichen Raum entscheidend beeinträchtigt.

Das geringe Menschenaufkommen auf den Straßen verstärkt das Gefühl, sich in Unsicherheit zu bewegen und jederzeit Gefahr ausgesetzt zu sein. Die Begegnungen mit anderen Bewohner*innen sind sporadisch und immer von Angst begleitet. Die Blicke kreuzen sich nur kurz, sie kommunizieren meist Misstrauen. Daneben befahren Autos mit geschwärzten Fenstern die Straßen.

Die Leere ist eine Konstante für diejenigen, die in Venezuela geblieben sind. Mit ihr müssen sie jeden Tag leben. Diese Leere verursacht Angst und Traurigkeit. Aber auch der Gedanke, dass diese Leere eines Tages wieder gefüllt werden kann, lebt. Hoffnung prägt die Grundhaltung der Menschen.

Die venezolanische Gesellschaft muss sich mit vielen Fragen auseinandersetzen. Wie funktioniert das Zusammenleben der Gebliebenen? Wie geht eine Gesellschaft mit dem Weggehen so vieler Menschen um? Wie passt man sich an die neue Situation an?

Caracas bietet nun Raum für einige soziale Versuche. So beziehen neue Bewohner*innen leerstehende Wohnungen und Häuser und kümmern sich um diese. Diese Lebensräume erhalten dadurch teilweise neue Formen. Gärten von verlassenen Villen werden in kleinen Grünflächen und städtische Gemüsegärten verwandelt. Leere Wohnungen und Büros werden zu Treffpunkten, an denen Menschen sich verabreden. Ehemalige Tankstellen, die einmal das Symbol des Ölreichtums Venezuelas waren, werden zu Orten für Kunstinstallationen. Auch Spaziergänge in Parks sowie das Wandern auf den Aila, den Hausberg von Caracas, ist zu einem kollektiven Akt geworden.