MALMOE

Die Tränen

Die fabelhafte Welt der ­Körpersäfte #9

Es gibt viele Arten von Tränen – dicke, salzige, heiße Tränen, aber auch bittere, heimliche, falsche. Freudentränen, Krokodilstränen, Tränen der Rührung, des Schmerzes und der Wut. Poesiebänder ließen sich über die Fenster zur Seele füllen, die unsere Herzen reinigen und die Not trotzdem meist nicht stillen. Kaum ein Körpersaft der bedeutungsschwangerer ist – in kultureller Überfrachtung kommt nur das Blut den Tränen nahe. Doch während die lebensnotwendige Funktion des Blutes ganz eindeutig ist, wissen wir bis heute nicht genau, wozu Tränen eigentlich gut sind.

Um es klar zu stellen – wir reden hier nicht über die Tränen, die die Hornhaut benetzen und beim Zwiebel schneiden vermehrt produziert werden, um unsere Augen vor dem scharfen Gemüse zu schützen. Die emotionalen Tränen sind inhaltlich und in ihren Inhaltsstoffen was anderes. Aber wozu tränen ­unsere Augen, wenn wir traurig sind? Die noch brauchbarsten Theorien behaupten, Emo-Tränen seien da, um Stress und Giftstoffe abzubauen. Doch nicht immer wirkt das Tränen-Lassen entspannend, und die Menge an ausgestoßenen Giftstoffen in den Tränen ist verschwindend gering. Also wozu? Ganz wilde Tränen-Theorien werden in der Evolutionspsychologie geschmiedet: Mal konnten die Menschen mit Tränen stille Signale der Not senden, die von Säbelzahntigern nicht verstanden werden konnten, mal waren Tränen ein evolutionär entwickelter Mechanismus, um Empathie zu wecken und so den Menschen durch sozialen Zusammenhalt überlebensfähig machen. Tränen wären demnach der soziale Kitt, der den Menschen den evolutionären Vorteil des Gesellschaftswesens verschafft hat. Doch bloß weil diese Theorie sympathischer ist als der übliche evolutionspsychologische Schmafu, ist sie noch lange nicht wahrer.

Wir kennen zwar den biologischen Zweck der Emo-Tränen nicht, aber wir wissen instinktiv ganz genau, was sie so tun. Tränen sind sowohl Zeichen als auch Ventil für emotionale Überladung, sie wecken wahlweise Mitleid oder Abscheu, und sie sind eine zutiefst menschliche Fähigkeit. Die Anderen – also Tiere, Roboter und echte Männer – weinen nicht. Doch was ist eine Regel wert ohne ihre Ausnahmen? Krokodile lassen beim Essen Tränen, und so manch ein Androide wurde schon mit Tränen gesichtet. Unlängst wurde ich auf einer Donnerstagsdemo sogar Zeugin eines vor Rührung weinenden Polizisten!

Was mich darüber nachdenken ließ, ob es nicht doch gut sei, tränendrüsendrückende Politik zu machen. Dabei geht’s mir nicht darum, wie Spendenorganisationen mit traurigen Kinderaugen den Tränenapparat und das Geldbörsel anzuregen. Sondern darum, die Erkenntnis zu nutzen, dass politisches Bewusstsein sehr oft über rührende Momente geweckt wird. Immerhin wird bei Filmen oft auch deshalb geweint, weil in der Liebe oder auch der Solidarität ein utopischer Moment aufflackert. Filmschauen ist übrigens neben der Trauer der zweithäufigste Grund, warum Menschen weinen. Aber nicht immer wird edel der Utopien wegen geweint. Manchmal trachten wir auch ganz banal danach, ein bisschen salziges Selbst- und Fremdmitleid zu spüren. Die Kulturindustrie weiß nämlich im Gegensatz zur Wissenschaft ganz genau, wozu das Augenwasser gut ist.

Und was sollen wir Feministinnen mit den Tränen machen? Runterschlucken, um uns nicht mit Weinepidemien außer Gefecht zu setzen oder doch die Tränen die Wangen hinunterkullern lassen, um sie dann genüsslich mit den Lippen einzufangen? Klingt beides gut. Und einmal würde ich gerne weinend eine glühende Brandrede halten. Wie mein neues Vorbild, die amerikanische Aktivistin Emma Gonzáles, die in ihrer berühmt gewordenen Rede zwar fortlaufend weint, aber unbeirrt mit Wut und Kraft ihre Regierung anklagt.