MALMOE

Wo bleibt der Karneval?

Brasilien 2018. Jair Bolsonaro, der offen die Militärdiktatur herbeisehnt und Andersdenkende mit dem Tod bedroht, wird brasilianischer Präsident – 57 Millionen Menschen haben ihn gewählt. Wie ist es dazu gekommen?

Wieder einmal sorgte eine polarisierte Wahl zwischen einem rechtsextremen und einem „normalen“, liberalen Politiker für allgemeines Aufschreien in der bürgerlichen Welt. Diesmal waren alle entsetzten Augen auf Brasilien gerichtet, wo Jair Bolsonaro immer neue Horror-Meldungen produzierte und trotzdem in den Umfragen stetig dazugewann. Nun sitzt er, der Homosexuelle töten, Indigene vernichten, Frauen vergewaltigen, Schwarze auspeitschen und überhaupt eine strenge Diktatur wiedereinführen will, bald im brasilianischen Präsidentenpalast. Wie zum Teufel kann das sein? Sind die Menschen dumm oder einfach nur böse? Angesichts dieser Entscheidung so vieler Bürger_innen fällt es schwer, den Glauben an die Menschheit zu behalten. Doch politische Depression bringt keinem was, also versuche ich es mit einer rationalen Analyse des Wahnsinns

Ich habe das fragliche Glück, aus zwei Ländern zu stammen, die einen zweifelhaften Umgang mit der eigenen Geschichte haben. Die armselige österreichische Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist bekannt, der brasilianische Umgang mit „dunklen“ Epochen der Geschichte ist ähnlich inexistent. Die Sklaverei wurde 1888 auf Druck von außen abgeschafft und die brasilianische Nation gründete sich auf dem Mythos der „Rassendemokratie“, ohne strukturell an der kolonialen Gesellschaft etwas zu ändern. Auch nach der Militärdiktatur in den 1960er und 1970er Jahren herrschte eine allgemeine Amnes(t)ie. Das heißt, die Machthaber blieben an der Macht, nur haben alle vergessen, was sie gemacht haben – nämlich soziale Rechte beschnitten, Menschen gefoltert und getötet, die Umwelt zerstört etc.

Aufstieg und Fall der PT

Doch es gab breiten Widerstand gegen die Diktatur, der von Gewerkschaften, befreiungstheologischen Basisgemeinden, Künstler_innen und vielen mehr getragen wurde. 1985 wurden schließlich wieder Wahlen eingeführt und die sozialen Bewegungen stellten eine eigene Partei auf – die PT (Partido dos Trabalhadores), die erste und einzige Partei in Brasilien, die eine Massenbasis hat und nicht aus weißen bürgerlichen Männern aus Politikerdynastien besteht. Viele der Menschen, die gegen die Militärdiktatur kämpften und verfolgt wurden, saßen später in der ersten PT-Regierung. Die PT legte unter der Führung von Lula, Luiz Inácio Lula da Silva, kontinuierlich zu. Lula wurde 2003 zum Präsidenten Brasiliens, das er gemeinsam mit seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff bis 2016 regierte. Mithilfe von sozialen Programmen und einer stabilen Wirtschaftslage konnten in der Amtszeit der PT mehrere Millionen Brasilianer_innen aus der Armut befreit und der Hunger in Brasilien massiv eingedämmt werden. Schulen und Gesundheitswesen wurden ausgebaut, Minderheitenrechte gestärkt, Gleichstellung von Frauen und Schwarzen gefördert, der Umweltschutz und Landreformen forciert, internationale Süd-Süd-Beziehungen geknüpft und Antikorruptionsgesetze erlassen.

Doch das Dilemma der Sozialdemokratie, innerhalb des parlamentarischen, kapitalistischen Systems eine linke Politik umzusetzen, ließ auch diese Erfolgsgeschichte bitter enden. Kompromisse mit Herrschenden mussten geschlossen, Zusammenarbeit mit Rechten eingegangen und ein korruptes System mitgetragen werden, um Umverteilung zu erreichen. Schließlich ließ das Wirtschaftswachstum nach, die umzuverteilenden Pfründe wurden weniger, die Fehler der Linken wurden untragbar und die Rechte wurde wieder stärker. Die bürgerliche Rückeroberung der Macht setzte 2016 mit dem Putsch gegen Dilma ein, endete im politischen Prozess gegen Lula und in der aktuellen Katastrophe.

Korruption, Putsch und die Mittelschicht

Die Enttäuschung und die moralische Empörung über die Beteiligung der PT am größten Korruptionsskandal der brasilianischen Geschichte trugen wesentlich zum Sieg von Bolsonaro bei. Doch bei dieser von der bürgerlichen Presse geprägten Perspektive werden Dimensionen aufgeblasen und dann wieder bagatellisiert, wie es politisch gerade genehm ist. Linke werden wegen kleinerer Verschulden wesentlich härter verurteilt als Rechte, deren Steuerhinterziehungen stets wie Lausbubenstreiche verhandelt werden. Gegen gut die Hälfte aller Kongressabgeordneten laufen Ermittlungen im Petrobras-Skandal. Gegen Dilma nicht, und trotzdem wurde sie abgesetzt.

Der juristisch gefinkelte und verdeckte Putsch fand statt vor dem Hintergrund einer jahrelang medial geschürten Anti-PT-Stimmung sowie einer guten Portion Sexismus gegen Dilma, die niemals lächelte und vielen einfach nicht so sympathisch war. Das fing schon an mit den Protesten, die bei der Fußball-WM 2014 aufflammten, von breiten Teilen der Mittelschicht getragen wurden und geprägt waren von medial geschürtem Klassenhass. Vielen Brasilianer_innen der Mittelschicht ist es nämlich nicht genehm, dass die Armen plötzlich an ihrer Seite stehen – vor allem angesichts der Rezession. Es wurden absurde Plakate auf Anti-PT-Demonstrationen gesichtet: „Wir können uns unsere Hausangestellten nicht mehr leisten!“ Eine Ursache dafür ist ein unter der Arbeiter_innenregierung verabschiedetes Gesetz, das ordentliche Anstellungsverhältnisse für Hausangestellte einfordert. Doch die ehemalige Sklavenhaltergesellschaft will sich ihre Sklav_innen nicht nehmen lassen. Und Michel Temer, von der konservativen PMDB Partido do Movimento Democrático Brasileiro versteht das – er schaffte während seiner Amtszeit ein Gesetz ab, das sklaven-ähnliche Arbeitsverhältnisse verbietet. Seit dem Putsch wurden in rasantem Tempo viele sozialpolitische Errungenschaften wieder rückgängig gemacht, Brasilien ist wieder auf der Welthungerkarte vertreten und die Gewalt in den Städten und am Land explosionsartig angestiegen.

Rio, Gewalt und Evangelikale

Die Todesrate in Rio de Janeiro ist seit 2017 massiv angestiegen – im August 2018 wurden 80 % mehr Schusswechsel gezählt als im Vorjahr. Das hängt auch mit dem seit 2017 amtierenden evangelikalen Bürgermeister Marcelo Crivella zusammen, der unbedingte Härte gegen die Drogenbanden fordert und dazu das Militär einsetzt. Im ersten Halbjahr 2018 sind knapp 900 Menschen, fast ausschließlich Schwarze und Arme, durch Polizeigewalt umgekommen. Es finden täglich so viele Schusswechsel statt, dass eigene Apps zur Lokalisierung und Vermeidung von Scharmützeln entwickelt wurden. Die Bewohner_innen der Stadt vermeiden es, am Abend draußen zu sein, Autos und Schulen haben kugelsichere Fenster, Bandenkriege und Raubüberfälle gehören zum Alltag. Zudem spürt die Mittelschicht die Rezession, die Stadt ist bankrott, Beamtengehälter werden wenn, dann nur zögerlich ausgezahlt, Streiks sind an der Tagesordnung. Die ausufernde Gewalt, Angst und Rechtlosigkeit schaffen eine apokalyptische Stimmung, die wiederum den Evangelikalen zugutekommt.

Der Aufstieg der Evangelikalen in den letzten Jahren ist beängstigend – mittlerweile hängt ein Viertel der brasilianischen Bevölkerung den fundamentalistischen Lehren der Pfingstkirchen an. Abgesehen von radikaler Homophobie, Frauenhass und Exorzismus, ist ein zentraler Bestandteil der bombastischen, modischen Religion die gewalttätige Verfolgung von Andersgläubigen, insbesondere von afrodeszendenten Religionsgruppen. Neben Gewalt spielt auch Geld eine wichtige Rolle: Gläubige müssen ein Zehntel ihres Gehalts spenden, was von vielen als schlichte Abzocke kritisiert wird. Der Gründer der größten Pfingstkirche IURD (Igreja Universal do Reino de Deus) Edir Macedo, ein ehemaliger Lotterieangestellter, gehört mittlerweile zu den reichsten Unternehmern Brasiliens. Er besitzt ein Medienimperium und wird international verfolgt wegen Geldwäsche, Steuerhinterziehung und kurzzeitig auch wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Doch in der Zwischenzeit ist der politische Einfluss evangelikaler Gruppen groß geworden, durch mehrere evangelikale Politiker in wichtigen Ämtern sowie eine starke Lobby im Kongress.

Wahlkampf 2018

Vor diesem Hintergrund fanden also die Wahlen 2018, in denen nicht nur der Präsident, sondern auch der Kongress, Teile des Senats und Gouverneure gewählt wurden, statt. Nicht nur Bolsonaro gewann, sondern zahlreiche andere rechtsextreme Politiker_innen treten ab 2019 wichtige Posten in Brasilien an – wie der zukünftige Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro Wilson Witzel, der der rechtsextremen Partei PSC (Partido Social Cristão) angehört.

Der Wahlkampf war geprägt von Polarisierung, Gewalt und Fake News. Die bürgerlichen Medien machten Anti-PT-Propaganda im großen Stil und förderten den schon 30 Jahre im Kongress sitzenden Jair Bolsonaro, bis auch sie von diesem als Establishment angegriffen wurden. In Sozialen Medien, in Brasilien vor allem durch WhatsApp, wurden diffamierende und manipulative Fake News verbreitet, wie beispielsweise gefälschte Pädophilie-Videos vom PT-Kandidaten. Großgrundbesitzer, Evangelikale und Militärs pushten Bolsonaro und seine Aufrufe zur Gewalt, die nicht ohne Taten blieben. Verdeckte rassistische Haltungen wurden zu explizitem Hass und körperliche Angriffe gegen Schwarze, Homosexuelle und Linke nahmen massiv zu. Eine linke Stadträtin wurde ermordet, Indigene und zahlreiche Aktivist_innen der Landlosenbewegung erschossen.

Und die Linke? Der vielversprechendste Kandidat Lula wurde in einem Schnellverfahren wegen 700.000 Dollar Bereicherung zu zwölf Jahren Haft verurteilt1Ein Vergleichswert: Beim Buwog-Skandal geht es um mehrere Milliarden Euro und Karl-Heinz Grasser wird noch lange nicht ins Gefängnis kommen.. Er blieb trotz nationaler und internationaler Proteste (es gab sogar eine Uno-Resolution zu seiner Freilassung) ein politischer Gefangener und durfte nicht zur Wahl antreten. Der neue PT-Kandidat Fernando Haddad konnte nicht die gleiche Popularität entfalten, eine andere einigende linke Kraft konnte sich nicht etablieren. Viele enttäuschte PT-Anhänger_innen wählten auch beim zweiten Wahldurchgang weiß, da sie der PT die fehlende „Verantwortungsübernahme“ für die Wirtschaftslage nicht verzeihen konnten. Und so kam es, dass 55 % der Brasilianer_innen (und 45 % der Exilbrasilianer_innen in Ö) für Jair Bolsonaro stimmten, der offen die Militärdiktatur herbeisehnt und Andersdenkende mit dem Tod bedroht.

Und was passiert jetzt?

Die im Wahlkampf gemachten Ankündigungen werden schrittweise umgesetzt. International stellt sich Brasilien an Trumps Seite gegen internationale Organisationen, wie die UNO oder den Weltklimavertrag. Eine Liste von „Feinden“, 700 Kulturschaffende, die sich gegen den Faschismus aussprachen, wurde veröffentlicht; Schüler_innen werden dazu aufgerufen, linke Lehrer_innen zu denunzieren, und soziale Bewegungen werden als Terrorist_innen diffamiert. Die Kooperation mit Kuba, das Ärzte in strukturschwache Gegenden schickt, wurde aufgelöst und lässt Millionen von Brasilianer_innen ohne Gesundheitsversorgung. Das waren bloß ein paar der ersten Taten der noch nicht angelobten rechtsextremen Regierung.

Voraussehbar ist, dass Gewalt und Armut weiter ansteigen, der Rechtsstaat weiter ­ausgehöhlt, der Regenwald und seine Bewohner_innen weiter kolonisiert, Aktivist_innen und Arme weiter sterben werden. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Mein Vater, ein unermüdlicher Optimist, sieht jetzt die Chance gekommen, dass Brasilien seine gewalttätige Vergangenheit endlich aufarbeitet: Der Kolonialismus sei wie eine entzündete Wunde, die behelfsmäßig versorgt wurde und jetzt wieder aufgeplatzt sei. Jetzt erst könne die Wunde ordentlich behandelt werden, um dann wirklich zu heilen. Hoffen wir, dass die zahlreichen sozialen Bewegungen Brasiliens diese Aufgabe trotz widrigster Umstände meistern können.