MALMOE

No Pasarán!

Zur Erinnerung an Rudolf Gelbard. Überlebender, Mahner, Antifaschist

Rudolf „Rudi“ Gelbard verstarb am 24. Oktober dieses Jahres in Wien. Damit verlor die Gesellschaft einen der letzten Überlebenszeugen der Shoah, welcher sich bis zu seinem Lebensende unerbittlich als Aufklärer und Mahner engagierte. Für etliche Jugendliche und junge Erwachsene war Rudolf Gelbard wohl der erste – und eventuell auch einzige – Zeitzeuge, von dem sie aus erster Hand über den Nationalsozialismus erfuhren, wenn er leidenschaftlich in Schulen, auf Gedenkveranstaltungen oder auch bei antifaschistischen Protesten sprach.

Dabei bemühte er sich stets, nicht nur Betroffenheit und Mitgefühl mit dem ihm durch das nationalsozialistische Regime zugefügten Leid hervorzurufen. Vielmehr kämpfte er mithilfe von historischen Fakten, nicht ungern untermauert mit Zitaten, gegen das Nachleben des Nationalsozialismus an. Auch wollte er im Namen jener sprechen, die kein Zeugnis mehr ablegen konnten, und die Erinnerung an sie wachhalten. So griff er gerne auf die Worte Simon Wiesenthals zurück, wenn er nach dem Grund für sein lebenslanges Engagement gefragt wurde: „Überleben ist ein Privileg, das verpflichtet.“

Leopoldstadt, Aspangbahnhof, Theresienstadt

Als jüdisches Kind 1930 in Wien geboren, erlebte er in der Leopoldstadt, wie die österreichische Bevölkerung nach dem Anschluss an das Deutsche Reich ihrem Antisemitismus freien Lauf ließ. Ab 1938 wurde Gelbard Zeuge der Arisierungen und davon, wie Jüdinnen und Juden auf der Straße geschlagen und gedemütigt wurden. Bei der jährlichen Gedenkveranstaltung am Aspangbahnhof erzählte Gelbard einmal, wie er damals unter einem Steinhagel der Hitlerjugend mit anderen jüdischen Mitschüler_innen davonrennen musste, während die Polizei nur zusah. Die Gewalt nahm ihren vorläufigen Höhepunkt in den Novemberpogromen, bei welchen allein in der Nacht auf den 10. November 30 österreichische Jüdinnen und Juden ermordet, 7800 verhaftet und ungefähr 4000 Menschen in das Konzentrationslager Dachau deportiert wurden. Rudolf Gelbard musste in dieser Nacht mitansehen, wie der jüdische Tempel im zweiten Bezirk zerstört wurde.

Von 1941 bis 1942 wurde Gelbard gezwungen, den Judenstern zu tragen. Er erzählte durchaus mit Stolz, wie er sich getraut hat, den Stern abzulegen, um sich verbotenerweise Filme im Kino anzusehen. Im Oktober wurde er schließlich zusammen mit seinen Eltern vom Aspangbahnhof in das Konzentrationslager Theresienstadt gebracht. Dieses Konzentrationslager wurde vom nationalsozialistischen Regime für Propagandazwecke als „Vorzeigelager“ präsentiert, was jedoch nur vordergründig über die furchtbaren Bedingungen, welche dort herrschten, hinwegtäuschen sollte. Heimlich wurden die Kinder im Lager von anderen Insassen unterrichtet, auch um sie vor den alltäglichen Grausamkeiten ein wenig abzuschirmen. Seine ersten großen Lehrer waren deshalb „linkssozialistisch-zionistische und sozialdemokratisch-zionistische Jugendführer“, die alle in das KZ-Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden. Ungefähr 15.000 Kinder wurden nach Theresienstadt gebracht, nur knapp 200 überlebten – unter ihnen auch Rudolf Gelbard. Gemeinsam mit seinen Eltern gehörte er zu den wenigen, welche die Befreiung durch die Alliierten noch erlebten.

Nachdem sie im Mai 1945 nach Wien zurückkehrten, musste sich Rudolf Gelbards Vater in der Nachbarschaft rechtfertigen, „warum sie denn überlebt hätten und nicht vergast wurden“. Seine Eltern starben kurz nach der Befreiung an den Folgen der Gefangenschaft. Neunzehn seiner Familienmitglieder wurden ermordet.

Leben als Antifaschist

Rudolf Gelbard selbst bemühte sich nach 1945 täglich, die ihm verwehrte Schulbildung nachzuholen und besuchte zahlreiche weiterbildende Kurse. Er war regelmäßig als außerordentlicher Hörer am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Dabei setzte er sich besonders tiefgreifend mit dem Nationalsozialismus und der Shoah, aber auch mit der Kommunistischen Internationalen und dem Zionismus auseinander. Seine Leidenschaft, sich stets weiterzubilden, und sein politisches Engagement als Zeitzeuge brachten ihm 1997 den Ehrentitel Professor und eine Vielzahl anderer Auszeichnungen.

Als aktiver Antifaschist trat Gelbard erstmals mit sechzehn Jahren bei einer ganztägigen Belagerung an der Hochschule auf, nachdem ehemalige Nationalsozialisten eine Vorlesung über die Geschichte der Juden im Mittelalter gestört hatten. In Folge beteiligte er sich an zahlreichen Protestaktionen. So sprengte er bereits 1948 zusammen mit anderen Antifaschist_innen die Gründerversammlung eines Vereins ehemaliger Ariseure, welche sich euphemistisch „Verband der Rückstellungsbetroffenen“ benannten. Auch 1955 intervenierte Gelbard zusammen mit anderen bei einer Neonaziversammlung des VDU-Nationalrats Dr. Fritz Stüber, der eine Veranstaltung mit dem Titel „Hungerrenten und jüdische Forderungen an Österreich“ abhalten wollte.

Im Oktober 1959 organisierten erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg neonazistische und deutschnationale Gruppen einen Großaufmarsch in Wien. Burschenschaften wie die Teutonia, Germania, Gothia, Libertas, Bruna Sudetia oder Olympia zogen gemeinsam mit anderen neonazistischen Akteuren durch Wien und es kam zu schweren gewalttätigen Auseinandersetzungen. Sogar Mitglieder der Kameradschaft IV der Waffen-SS sollen teilgenommen haben. Bei den Gegenprotesten war Rudolf Gelbard an der Spitze mit dabei.

Auch beobachtete er verschiedene Prozesse gegen nationalsozialistische Kriegsverbrecher und brachte sich bei der österreichischen Sozialdemokratie ein. In den sechziger Jahren protestierte er gegen die skandalösen Freisprüche österreichischer Gerichte bei verschiedenen Kriegsverbrecherprozessen – etwa gegen den Freispruch von Franz Murer, welcher als „Schlächter von Vilnius“ für die Ermordung zehntausender Jüdinnen und Juden verantwortlich war.

Im Zuge der Borodajkewycz-Affäre 1965 nahm Rudolf Gelbard an den Protesten gegen den antisemitischen Professor Taras Borodajkewycz teil. Die etwa eintausend Anhänger des Professors skandierten Sprüche wie „Hoch Auschwitz!“, „Hoch Boro!“ und „Juden raus!“. Es folgten extrem gewalttätige Auseinandersetzungen, bei denen ein dem Ring freiheitlicher Studenten nahestehender Amateurboxer den damals 68-jährigen Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger durch einen Faustschlag tötete. Rudolf Gelbard sah Kirchweger an jenem Tag schwerverletzt am Boden liegen.

Dennoch beteiligte sich Gelbard weiterhin an Demonstrationen und Protestaktionen und störte beispielsweise eine in den Achtzigern geplante Veranstaltung des Holocaustleugners David Irving, an dessen Vorträgen auch der aktuelle Vizekanzler Heinz-Christian Strache teilnahm.

Sein Engagement gegen Antisemitismus beschränkte sich jedoch nicht nur auf nationalsozialistisch orientierten Antisemitismus, sondern er wehrte sich als überzeugter Zionist gegen jegliche Form des Antisemitismus. Demgemäß unterstützte er etwa die Gegenproteste zum jährlich stattfindenden Al-Quds-Marsch des Iranischen Regimes.

Die letzten Zeugen

Nachdem Gelbard 1991 sein Dienstverhältnis beim Kurier, für welchen er von 1975 bis 1990 als Redakteur und Dokumentarist für Zeitgeschichte tätig war, durch den Pensionsantritt beendete, war er verstärkt als Zeitzeuge und Vortragender an Schulen tätig und verbrachte seine Freizeit häufig mit eigenen Recherchen. Selbst zunehmend hohes Alter und gesundheitliche Schwierigkeiten hielten ihn nicht davon ab, seine Erinnerungen weiterzugeben und sein Wissen und seine Expertise jüngeren Generationen zugänglich zu machen. Auch sein Sinn für Gerechtigkeit blieb stets ungebrochen. So beteiligte er sich zusammen mit acht anderen Überlebenden an der Klage gegen die rechtsextreme und der FPÖ nahestehenden Zeitschrift Aula, da diese Überlebende des Konzentrationslagers Mauthausen 2015 als „Landplage“ und „Massenmörder“ bezeichnet hatte.

Zusammen mit anderen Überlebenden wirkte er auch am eindrücklichen Theaterstück Die letzten Zeugen von Doron Rabinovici mit und wendete sich zu den Regierungsverhandlungen 2017 mit einem Videoappell von SOS Mitmensch zu Wort. In diesem argumentiert Gelbard, warum für ihn die Freiheitliche Partei, welche von Burschenschaften durchsetzt ist, die führende Nationalsozialisten ungebrochen als Ehrenmitglieder führen, nicht in eine Bundesregierung gehört. Noch am 8. Mai 2018 sprach Gelbard beim Fest der Freude in Wien vor mehreren tausend Menschen, bei welchem der Befreiung vom Nationalsozialismus gedacht wurde. Der Tod Rudolf Gelbards und anderer engagierter Überlebenszeug_innen wirft die Frage auf, wie kommende Generationen ohne die Authentizität der Zeugenschaft mit den Verbrechen des Nationalsozialismus konfrontiert werden können. Dokumentarfilmprojekte und Initiativen der Nachkommenden von Überlebenden zeigen erste Möglichkeiten auf.

Dennoch bleibt eine große Leerstelle. Wie kaum ein zweiter war Rudolf Gelbard befähigt, Erfahrung und Wissen um die Geschichte des Nationalsozialismus und dessen Nachleben weiterzugeben. Schließlich war er selbst bis ins hohe Alter an unzähligen vergangenheitspolitischen Auseinandersetzungen beteiligt. Sein lebenslanger Kampf gegen das Vergessen sollte auch jüngeren Generationen aufzeigen, dass sie die antifaschistische Verantwortung tragen, derartiges nicht mehr geschehen zu lassen. So endeten zahlreiche seiner Protestreden mit dem Ausruf des spanischen Widerstandes: No Pasarán!