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MALMOE

Mass Shootings for the pathological male

Scott Beierle, die Incel-Szene und der frauenfeindliche Terrorismus

Am frühen Abend des 2. November, gegen zwanzig vor sechs, betritt Scott Beierle das Talahasse Hot Yoga Studio und eröffnet mit einer 9mm-Pistole das Feuer auf die Anwesenden. Als dreieinhalb Minuten später Polizeikräfte eintreffen sind drei Menschen tot: Maura Binkley, Studentin der Florida State University, Nancy van Vessem, Ärztin und Fakultätsmitglied der Florida State und Beierle, der seine Waffe gegen sich selbst richtete. Vier weitere Menschen sind angeschossen, einem wurde mit der Pistole ins Gesicht geschlagen.

Ground Facts

Die Durchsuchung der sozialen Medien bringt in den nächsten Tagen Folgendes zutage: Beierle ist Politikwissenschaftler, Englischlehrer, Armeeveteran, seit 5 Jahren auf der Suche nach einem Job und ehemaliger Student der Florida State. Politisch brisanter als die Infos seines LinkedIn-Accounts sind die Videos, die Beierle auf YouTube hochlädt. In ihnen fordert er die Kreuzigung promisker Frauen, schimpft auf Frauen, die schwarze Männer daten und vergleicht sich selbst mit Elliot Rodger

Rodger ermordete 2014 sechs Menschen nahe des Campus Santa Barbara und verletzte 14 weitere. Auf seinem Computer finden die Ermittler nach der Tat ein Manifest, in dem er sich die „Befreiung der Menschheit vom Sex“ und Konzentrationslager für Frauen erträumt. Rodger, der sich nach seiner Tat mit einem Kopfschuss umbringt, ist heute Held und Idol der Incel-Szene, die ihn als „Supreme Gentleman“ verehrt. Auch Scott Beierle rechnet sich den Incels zu.

Célibataire ­involontaire? Oder: Unfreiwillig ­enthaltsame misogyne Verschwörungstheoretiker

Incels sind eine der Untergruppen, die aus dem Onlineumfeld der Alt-Right und der Alt-Light (gewissermaßen der handzahme Teil der Alt-Right), gewachsen sind. Der obskure Begriff enthüllt sich als relativ selbsterklärend, ist er doch ein Kofferwort aus „involuntary“ (= unfreiwillig) und „celibat“ (= Zölibat). Incels teilen das autoritäre, antifeministische und konservative bis rechtsradikale Mindset der Internetrechten, spitzen aber vor allem den antifeministischen Aspekt gnadenlos zu einer Verschwörungstheorie zu: Incels, so das Selbstbild, sind Opfer einer Gesellschaft, die vom ideologischen Programm des „kulturellen Marxismus“ so zersetzt wurde, dass längst eine männerhassend-feministische gesellschaftliche Hegemonie entstanden ist. Frauen, sogenannte „Stacys“, würden sich ausschließlich an gutaussehenden und erfolgreichen Typen („Chads“) oder fetischisierten POC-Alphas („Tyrones“) orientieren und lassen die wirklich netten und aufmerksamen Jungen aus der Nachbarschaft, also die Incels, verkommen. Dass Incels von Frauen als „femoids“ sprechen, auch mal fordern, Frauen sollten sich mit einer Existenz am Herd plus gelegentlicher Prügel abfinden oder 15-jährige Mädchen wegen ihrer vermuteten Jungfräulichkeit zur Traumfrau küren, hat mit der Ablehnung sicherlich nichts zu tun. Wie sich dieses Denken im Alltag der Incels artikuliert, illustriert Beierle fast beispielhaft: Er wurde bereits 2012 und 2016 verhaftet, weil er Frauen in mehreren Fällen gegen deren Willen begrabschte. Beide Male wurden die Klagen fallen gelassen. Seine Stelle als Lehrer verlor er Berichten zufolge, weil er eine Studentin fragte, ob sie „kitzlig“ sei und sie daraufhin ebenfalls begrabschte

Solitary circle jerk

Das Weltbild der Incels lässt sich als eine negative Paraphrase der patriarchal-männlichen Ideologie beschreiben: Alle Marker von Erfolg, Männlichkeit und geschlechtlicher Souveränität bleiben unangetastet und weiterhin begehrenswert, nur unerreichbar. Aber was wäre eine gute Verschwörung ohne eine_n Schuldige_n? Schuld an der sozialen Auf- und Abwertung, die (nicht nur) das Leben der Vergeschlechtlichten, im warenproduzierenden Patriarchat bestimmt, sind für Incels der sogenannte “cultural marxism“ als strukturelles System. Auf der individuellen Ebene sind es vor allem Frauen, die dieses System verkörpern

Neu ist ein solches Denken nicht, neu ist jedoch die Vernetzung, die dazu im Internet stattfindet. Incels treffen sich in Subreddits und 4Chan-Boards und begreifen sich als Teil einer Gruppe, mit allem was dazugehört: Jargonbildung, Erfahrungsaustausch und Gruppenidentität. Der virtuelle „circle jerk“ hilft zusammenzuschweißen und den Hass auf das oder die Anderen zu legitimieren und zu radikalisieren.

Neu ist auch nicht, dass es unter Männern ein größeres Potential gibt, gesellschaftliche wie sexuelle Kränkungen zu externalisieren und pathisch zu projizieren. Und dass gerade Frauen ein beliebtes Projektionsobjekt sind. Angefangen beim gewalttätigen Ex-Freund, dreht sich die Spirale von Projektion und Gewalt immer weiter, wird immer radikaler. Auch der Zusammenhang von Amokläufen und Antifeminismus ist nicht neu – immer wieder töten die als unpolitisch gelabelten „wahnsinnigen Einzeltäter“ gezielt Frauen. So auch Tim K., dessen Angriff im deutschen Ort Winnenden 2009 fast ausschließlich Frauen zum Opfer fielen. Eine richtige Einschätzung der politischen Dimension dieser Angriffe kommt um den Begriff misogyner Terrorismus nicht herum

Kein Einzelfall

Zumindest in Amerika haben solche Angriffe mit dem Anwachsen der Incel-Community zugenommen. Beierle ist der dritte Incel-Täter binnen 365 Tagen. Aleks Minassian, der Anfang des Jahres in Toronto ein Auto in eine Menschenmenge lenkte und dabei zehn Menschen umbrachte, bekannte sich zur Incel-Ideologie. William Atchison, der letzten Dezember an seiner Schule in New Mexico zwei Menschen erschoss, war sowohl deutschen wie amerikanischen Behörden bereits bekannt – als Onlinekontakt von David S., der 2016 in München aus rassistischen Motiven neun Menschen tötete. Die These vom „wahnsinnigen Einzeltäter“ bezieht ihre Glaubwürdigkeit daraus, dass Forenbeiträge und Chatnachrichten der Täter nicht als Vernetzung, sondern als ganz normale Kommunikation privater Personen gesehen werden.

Natürlich ist Beierles Tat auch im Kontext der amerikanischen Gesellschaft und ihrem Umgang mit Schusswaffen zu sehen. Es ist das 304. Mass Shooting in den USA, das die NGO Gun Violence Archive für das Jahr 2018 zählt. Und die Tat ist Ausdruck des neuen Selbstbewusstseins rechtsradikalen Terrors aus dem Umfeld der Alt-Right. Diese Art Attacken sind im letzten Jahr drastisch angestiegen und erreichten im antisemitisch motivierten Terrorangriff auf die Tree-of-Life-Synagoge in Pittsburgh im Oktober einen Hochpunkt.

Beierle ist, in diesem Sinne, kein Einzelfall. Ein ausgeprägter Antifeminismus kann so ziemlich allen Terroristen, die in den letzten Jahren in Amerika zur Waffe griffen, attestiert werden. Genauso sind, andersherum, antisemitische und rassistische Äußerungen in den Incel-Boards zuhauf zu finden

Dass es in den westlichen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten häufig die sozial wie psychisch Labilsten sind, die für ihre autoritäre Ideologie zum Terroristen werden, fällt bei den Incels besonders auf, da ihre gemäßigte Variante nicht der ‚Nazi‘ oder ‚islamische Fundamentalist‘ darstellt, sondern der ‚ganz normale Mann.‘ Über diesen Zusammenhang schrieb Klaus Theweleit: „Die zwischen ‚ganz normalen Männern‘ und ‚wilden Massenmördern‘ eingezogene Trennwand ist schlicht abzubauen (…). Das Morden und Massenmorden gehört zum ‚ganz normalen‘ Mann-Typ dazu – immer dort, wo die Schleusen einmal geöffnet sind.“