MALMOE

Es geht nicht nur um Pandas

Jedes Jahr sterben tausende Arten aus. Wieso muss man das verhindern und welche Arten wollen wir überhaupt schützen? Ein Erklärungsversuch

„Problematische Neubürger“, „Invasion aus dem Süden“ oder „Kampf gegen Eindringlinge“ – wer diese Schlagzeilen liest, denkt vermutlich nicht augenblicklich an Pflanzen und Tiere. Gemeint sind hier Neophyten, also Organismen, die gewollt oder ungewollt in ein neues Gebiet kommen. Die Gefahr dabei: Ursprüngliche, „heimische“ Vertreter können so verdrängt werden und aussterben.

Naturschutz ist auch Artenschutz. Sehr oft wird uns gesagt, dass wir Arten wie Pandabär und Edelweiß schützen müssen. Global wird das durch Spendenaktionen diverser Organisationen vermittelt, auf lokaler Ebene kursieren Tipps, wie die pflanzlichen und tierischen „Invasoren“ ausgerottet werden können. Aber wieso ist es – ganz banal gefragt – überhaupt wichtig, das Artensterben zu verhindern? Was macht es so schwierig? Und wie entscheidet man überhaupt, welche Arten schützenswert sind?

Zahlen über Zahlen

Biodiversität bedeutet Variabilität. Arten entstehen in Grunde durch zufällige Mutationen in ihren Genen und deren Selektion durch die Umwelt. Je diverser ein System, desto sicherer ist es, dass es mit neuen Bedingungen umgehen kann. Weniger Arten bedeutet also weniger Diversität und eine geringere Fähigkeit zur Resistenz und Resilienz. Regelmäßig schlagen Forscher deshalb Alarm: die Zahlen seien rückgängig – und das bei vielen Arten. Die jährliche Analyse State of the World Birds berichtet zum Beispiel, dass der Bestand von 40 Prozent der weltweiten Vogelarten abnimmt. Eine von acht Arten ist vom Aussterben bedroht. In Europa ist die Zahl aller Vögel in 20 Jahren um 300 Millionen gesunken, manche Vogelarten hätten über 80 Prozent ihrer Population verloren, so Wissenschaftler des französischen Forschungszentrums CRNS.

Auch bei Insekten sieht das Ganze nicht anders aus: In der Zeit von 1989 bis 2016 hatten Insektenforscher des Entomologischen Vereins Krefeld in 60 Naturschutzgebieten Deutschlands Fallen aufgestellt, um die Masse an Insekten zu bestimmen. Am Anfang waren es noch zwischen fünf und 20 Gramm Insekten pro Tag, 2016 oft nur noch zwei Gramm oder weniger. Die Anzahl der Insekten soll in diesen Jahren in Deutschland um 75 Prozent gesunken sein.

Insgesamt verschwinden jedes Jahr – je nach Schätzung – zwischen 20.000 und 58.000 Spezies von der Erdoberfläche. Im Vorjahr waren laut WWF 25.800 Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. Und das sind nur die Arten, von denen wir überhaupt schon wissen, dass es sie gibt. 90 Prozent aller Arten seien noch unbekannt, so Biologe Andreas Wanninger gegenüber Die Presse. Sie sterben oft aus, bevor wir sie überhaupt entdeckt haben.

So weit, so schlecht.

Zusammenhänge verstehen

Die Zahlen mögen vielleicht wie unabhängige Daten wirken, doch bestehen zwischen allen Arten Zusammenhänge. Viele sterben direkt aus, zum Beispiel durch illegale Verfolgung, andere indirekt durch Lebensraumverlust oder fehlendes Futter. Bedenkt man zum Beispiel, dass 60 Prozent aller Vögel auf Insekten als Nahrungsquelle angewiesen sind, kann man von einer negativen Beeinflussung ausgehen. Diese Auswirkungen von einer Art auf die andere, können aber nicht so leicht bemessen werden. Das Einführen einer Art auf einer hohen trophischen Ebene (das ist die Bezeichnung für Stufen in einer Nahrungskette) kann zwar eine Art dezimieren, deren Wegbleiben jedoch wiederum einen positiven Effekt auf eine andere Spezies haben. Ein Beispiel: In einer Gegend werden Löwen eingeführt. Sie jagen Gnus, dadurch erholen sich Pflanzenbestände, die davor von den Gnus gefressen wurden. Gut für die Pflanzen, schlecht für die Gnus. In Realität ist das System natürlich komplexer. Wie kann man sich zum Beispiel sicher sein, dass das Gras davor nicht schon prinzipiell einen niedrigen Bestand aufgrund von Trockenheit hatte?

Die Erforschung von Ökosystem unterscheidet sich deshalb von anderen Disziplinen. Während zum Beispiel in der genetischen Forschung Zusammenhänge im Labor und an Modellorganismen dargestellt werden können (das sind Arten wie die Fruchtfliege Drosophila melanogaster, an der viele Prozesse vereinfacht überprüft und für andere Arten ähnliche Erkenntnisse abgeleitet werden können), macht das in der Ökologie wenig Sinn. Dafür muss man sich nur Löwen, Gnus und eine Graslandschaft in einem Labor vorstellen – nicht so einfach. Dazu kommt, dass viele Organismen sich zwar auf Zellebene ähneln, ökologisch aber sehr unterschiedlich sind (hier kann man an den Unterschied zwischen der Lebensweise eines Löwen und einer Maus denken, bei denen ein Großteil der zellulären Prozesse sehr ähnlich ablaufen).

Generell gilt, dass man nicht genau weiß, was passiert, wenn eine Art aus einem Ökosystem genommen wird, das Risiko jedoch sehr groß sein könnte. Würde zum Beispiel die Flügelschnecke (eine Meeresschnecke) aussterben, stirbt automatisch auch der Seeengel (eine weitere marine Schnecke), weil er sich nur von Flügelschnecken ernährt. Das kann man auf andere trophische Ebenen umlegen und weiterdenken.

Zurück zu den Neophyten

Was hat das nun aber mit den Neophyten zu tun? Laut einer Studie im Fachjournal Nature gibt es weltweit über 13.000 eingeschleppte Pflanzenarten. Zum Vergleich: In ganz Österreich gibt es etwa 3000 Pflanzenarten. Bevor die Menschen anfingen sich vermehrt auf der Erde zu bewegen, fand die Wanderung langsamer statt: Arten kamen allmählich von einer Region in die Benachbarte (Pflanzen „wandern“ nicht wirklich, aber ihre Samen und Pollen tun es), zum Beispiel um Konkurrenz mit anderen zu vermeiden oder weil sich die Umweltbedingungen verändert hatten. Heute hat sich vieles beschleunigt: Muscheln kleben auf Ozeandampfern, die zu anderen Kontinenten aufbrechen, Händler verkaufen Pflanzen aus fernen Gegenden und Mikroorganismen reisen als blinde Passagiere auf unserer Haut oder in unserem Darm mit. Versuche, darauf Einfluss zu nehmen oder es gar zu unterbinden, scheitern oft.

Eine Gruppe an Biologen und Biologinnen plädiert deswegen dafür, die Debatte und Maßnahmen ein wenig zu überdenken, so auch Shahid Naeem, Ökologe an der Columbia University in New York: „Liebend gern würde ich sämtliche Organismen auf diesem Planeten ausrotten und an deren Stelle wieder all die heimischen Arten setzen“, sagt er im Magazin Spektrum der Wissenschaft. Doch so einfach sei das nicht. Deswegen bringt er eine neue und gleichzeitig sehr alte Erkenntnis ins Spiel: Neue Ökosysteme fördern auch die Biodiversität, allein dadurch, dass sie genetische Durchmischung bewirken können. Sollte man die Natur deswegen einfach walten lassen? Geht es nach Naeem und seinen Mitstreiterinnen, wäre die Antwort vermutlich „Ja“. Eine Studie zeigte, dass die eingeschleppten Arten meist ohnehin Plätze erobern, ohne dabei die lokalen Pflanzen auszulöschen – natürlich mit Ausnahmefällen, in denen Pflanzen überwuchert werden und ihnen so der Zugang zu Licht und Nahrung fehlt. Ist es deshalb vielleicht an der Zeit, das Konzept der Grenzen für Tiere und Pflanzen zu überdenken?

Pandas sparen Druckkosten

Es ist auch nicht leicht festzustellen, welche Arten in einem Ökosystem eine tragende Rolle spielen und welche auf gewisse Weise „redundant“ sind, also nicht essentiell für die Stabilität. Welche Arten muss man nun schützen? Ein Beispiel: In den 60er Jahren suchte die Natur- und Umweltschutzorganisation WWF ein Logo. Große Pandas waren damals schon geschützt, jedoch soll der WWF die Wahl vor allem getroffen haben, um Druckkosten zu sparen – schwarz-weiß ist billiger, versteht sich. Heute sind Pandas zu einem Symbol für den Artenschutz geworden, obwohl sie nicht unbedingt eine tragende Rolle in Ökosystemen spielen und ihr Aussterben, böse gesagt, die Stabilität vielleicht nicht verletzen würde. Ist Artenschutz also willkürlich?

Ökologen haben sich hier verschiedene Strategien überlegt, nach denen solche Überlegungen getroffen werden können (schon vorweg: Druckkosten sind nicht dabei). Generell muss entschieden werden, ob auf evolutionsbiologische Einmaligkeit oder ökologische Bedeutung Wert gelegt wird. Bei ersterem soll genetische Vielfalt bewahrt werden, was wiederum dem Artenreichtum zugutekommt. Komodowarane sind ein Beispiel eines einzigartigen evolutionären Relikts und wären Gewinner bei Artenschutz nach diesem Kriterium. Den ähnlich aussehenden Bindenwaran würde es schlechter erwischen. Denn er ist nah verwandt mit fünf anderen Waran-Arten.

Die ökologische Bedeutung lässt anders wählen: Ein Fokus kann auf sogenannten Schirmarten liegen, wie zum Beispiel Biber, Rote Waldameisen oder die Weißstämmige Kiefer. Sie sichern das Überleben von anderen Spezies oder ganzen Landschaften. Manche von ihnen sind auch sogenannte Schlüsselarten, die eine überdurchschnittlich wichtige Funktion einnehmen. So konnte zum Beispiel gezeigt werden, dass Wölfe im Yellowstone Nationalpark Einfluss auf Organismen aller Ebenen hatten und sogar den Verlauf der Flüsse beeinflussten. Nimmt man eine solche Schlüsselart aus dem System, kann das sogar zum Einsturz eines Ökosystems führen.

Naturschutz als Menschenschutz

Und auch Charisma hilft beim Artenschutz. Der Große Panda kommt bei den Menschen gut an, mit seiner Vermarktung lässt sich leichter Geld für den Artenschutz eintreiben. Das kann dann auch zum Schutz anderer Arten dienen. Prioritäten zu setzen ist also nicht so einfach.

Eine veränderte Sichtweise über unsere Rolle in der Natur könnte hier Abhilfe schaffen. Was, wenn wir den Naturschutz einfach egoistisch begründen würden? Denn am Ende ist es nicht die Natur, die von uns abhängig und deswegen schützenswert ist. Vielmehr sind wir Menschen von der Natur abhängig und brauchen ihre Vielfalt. Man könnte Ökosysteme deswegen zum eigenen Schutz der Menschen erhalten. Auch Shahid Naeem hat einen ähnlichen Fokus: „Die typische Sichtweise eines Ökologen war immer, dass wir Dinge verändern müssen, um die Biodiversität zu erhalten. Wir, im Gegensatz, denken, dass wir die Biodiversität ändern müssen, um Dinge zu erhalten, die für uns wichtig sind.“

Neben der philosophischen und ethischen Begründung könnte uns die Diversität der Arten deswegen auch einen praktischen und ökonomischen Nutzen bringen. Dazu passt das Modell der Ökosystem-Dienstleistungen. Intakte Ökosysteme reinigen unsere Luft und unser Wasser, sie vermindern Wetterextreme, und bilden die Grundlage, damit unsere Nahrung wachsen kann. Einige Ökologinnen und Ökologen wollen diesen Dienstleistungen deswegen auch einen realen, monetären Wert zuschreiben und auf den freien Markt einordnen. In einem viel diskutierten Artikel aus dem Jahr 1997 schätzte der Ökologe Robert Constanza von der Universität von Vermont den Wert aller Dienstleistungen, die Ökosysteme „zur Verfügung stellen“ auf 33 Billionen US-Dollar (damals fast das Doppelte der Bruttoinlandsprodukte aller Staaten). Das ist natürlich nicht unumstritten (denn wie bestimmt man den Wert von Leben?), trotzdem könnte Artenschutz so finanzielle Anreize bekommen. Etwas, das im Hinblick auf die momentane kapitalistische Weltordnung vermutlich auf Begeisterung stoßen würde.

Marktmechanismen für einen erfolgreichen Artenschutz? Wir könnten es zumindest versuchen.