MALMOE

Armenier*innen lehnen Sersch ab

Die „samtene Revolution“ in Armenien

In Armenien brachte massenhafter ziviler Ungehorsam den Machthaber Sersch Sargsjan zu Fall. Die gewaltfreie Revolte ging aber weiter – am 8. Mai 2018 wurde Protestführer Nikol Paschinjan zum neuen Premierminister gewählt. Wie es dazu kam und warum die „samtene Revolution“ noch nicht vollendet ist.

Der Generalstreik am 2. Mai 2018 stellte den Höhepunkt der seit Wochen anhaltenden Proteste gegen das politische Establishment der ehemaligen Sowjetrepublik im Südkaukasus dar: Zwischen all den Straßenblockaden und Protestmärschen machten sich mit Hunderten Menschen beladene Baustellenkipper auf den Weg zum armenischen Parlament. Flankiert von Motorrädern, Jeeps, Cabrios und Fahrrädern erinnerte die karnevaleske Karawane durch die Straßen der Hauptstadt Eriwan eher an Szenen aus dem Film Mad Max als an Standardstrategien des zivilen Ungehorsams – die friedlichen und ausgelassenen Proteste waren längst nicht mehr aufzuhalten.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Protestbewegung „MerjirSerjin“ (Sersch ablehnen) ihr erstes Ziel bereits erreicht – Premierminister Sersch Sargsjan konnte zum Rücktritt gezwungen werden. Der Widerstand richtete sich nun gegen die Regierungspartei. Die Republikanische Partei Armeniens (RPA) war seit knapp 20 Jahren formell an der Macht in Armenien.

Staat unter Kontrolle

Systemische Korruption sowie ein Mangel an Grundfreiheiten und gerechten Justizverfahren standen sinnbildlich für die Kontrolle der RPA über den gesamten Staatsapparat. Während die national-konservative RPA und ihr Karabach-Klan um die ehemaligen Sowjet-Funktionäre Robert Kocharjan und Sersch Sargsjan zu einem Sammelbecken für Oligarchen und politische Opportunisten wurden, macht die Partei auch keinen Hehl daraus, sich auf den semifaschistischen Zegakronismus zu berufen, die Rassentheorie des armenischen Nazikollaborateurs Garegin Nschdeh.

Die Präsidentenwahl 2008 stand im Zeichen der Machtübergabe von Kocharjan an Sargsjan. Proteste gegen Wahlbetrug ließen sie gewaltvoll niederschlagen – am 1. März 2008 wurden zehn Menschen getötet, viele weitere schwer verletzt. An die 100 Regierungsgegner*innen wurden verhaftet, darunter auch der ehemalige Journalist Nikol Paschinjan, der zuerst untergetaucht war und später zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde.

Sargsjan verschärfte die autoritäre Ausrichtung des Staates, der Raum für Dialog und politische Gegenmacht wurde eingeschränkt. 370.000 Armenier*innen emigrierten in den letzten zehn Jahren, darunter viele gut ausgebildete und regierungskritische junge Menschen sowie von Armut betroffene Menschen – die Armutsquote liegt heute bei 30 %. Im April 2018 endete die zweite und verfassungsmäßig letzte Amtszeit Sargsjans. Infolge einer Verfassungsänderung wurde die politische Machtkompetenz vom Präsidenten zum Premierminister übertragen. Entgegen seiner ­eigenen Ankündigungen kandidierte Sargsjan für eine erneute Amtszeit und ließ sich am 17. April vom armenischen Parlament, in dem seine RPA über die absolute Mehrheit verfügt, zum Premierminister wählen.

Widerstand formiert sich

Nikol Paschinjan war mittlerweile Abgeordneter der sozialliberalen Zivilvertrags-Partei, die 2017 in einem Bündnis mit anderen Kleinparteien ins Parlament gewählt wurde. Ende März startete er einen Protestmarsch gegen Sargsjans Postenrochade. Nahezu zeitgleich gründeten außerparlamentarische Oppositionelle die Bewegung „MerjirSerjin“. Die beiden Bewegungen vereinten sich. Tag für Tag legten sie mit dezentral organisiertem, gewaltfreiem zivilen Ungehorsam das Zentrum Eriwans lahm. Als am 22. April Paschinjan und weitere führende Persönlichkeiten der Bewegung festgenommen wurden, befürchteten viele eine Wiederholung der Ereignisse des 1. März 2008.

Die „samtene Revolution“ stand auf der Kippe, doch sie antwortete eindrucksvoll: Ohne zentrale Leitung marschierten mehr als hunderttausend Menschen durch Eriwan und versammelten sich abends am Platz der Republik. Sargsjan sah schließlich die neue politische Realität im drei Millionen Einwohner*innen zählenden Armenien ein. Am Tag darauf trat er zurück, alle Gefangenen kamen frei. Die RPA lud erst zu Verhandlungen mit der Protestbewegung, machte dann aber überraschend einen Rückzieher. Erneut legten zigtausende Menschen tagelang Eriwan und weitere Städte des Landes lahm.

Am 1. Mai sollte das armenische Parlament einen neuen Premierminister wählen. Die RPA verzichtete unter dem anhaltenden Widerstand auf eine eigene Nominierung, stimmte aber mit ihrer absoluten Mehrheit gegen den einzigen Kandidaten, Protestführer Nikol Paschinjan. Die Proteste flammten erneut auf, am 2. Mai folgte ein landesweiter Generalstreik. Eine Woche später beugte sich die RPA und verschaffte die nötigen Stimmen für Paschinjan. Die „samtene Revolution“ zelebrierte ihren nächsten Schritt.

Elemente des Erfolges

In Anbetracht der autoritären Zuspitzung mag es paradox anmuten, doch seit 2008 findet ein tiefgreifender Politisierungsprozess in Armenien statt. Die junge Generation übte sich im zivilen Ungehorsam, lernte aus ihren Fehlern und spielte ihre Stärken gegen die überforderte Staatsgewalt aus: Dezentrale Organisation und minimale Vorgaben wie Gewaltfreiheit legten den Grundstein für eine enorme Anschlussfähigkeit der Proteste und ein Maximum an kreativen Möglichkeiten des Widerstandes. Die Rolle von Frauen war essentiell für den Erfolg der Bewegung. Sie organisierten sich selbst, planten eigene Aktionen und konfrontierten damit nicht nur die überforderte Staatsgewalt, sondern Rollenvorstellungen und Tabus allgemein. Aktivist*innen nutzten Telegram, Facebook und Twitter zur Mobilisierung. In Abgrenzung zum staatlich kontrollierten Fernsehen und zur Selbstzensur etablierter Medien stellten unabhängige Onlinemedien und Rechercheplattformen kritische Perspektiven zur Verfügung. Ihre intensive Berichterstattung zu den Protesten verstärkte deren Wirkung immens.

Nun gilt es, den Erfolg auf der Straße in institutionelle Reformen und reale Verbesserungen umzuwandeln. Die Agenda der Minderheitsregierung unter Paschinjan sieht die Ausrichtung vorgezogener Neuwahlen vor – freie und faire Wahlen hatte es im unabhängigen Armenien seit über 25 Jahren nicht mehr gegeben. Die Transformation des Staatsapparates gestaltet sich aufgrund der tiefen Verankerung der RPA als kompliziert. Gefahr droht aber auch von anderen Oligarchen-Parteien und nationalistischen Gruppen, die das Momentum der Protestbewegung für sich nutzen wollen.

Die Art und Weise, wie die Armenier*innen in den letzten Wochen ihren Respekt vor dem politischen Establishment abgelegt haben, wie sie ihren Frust und ihre Wut über die sozialen Verhältnisse auf die Straße getragen und in eine warme und ausgelassene Proteststimmung verwandelt haben, gibt jedoch Hoffnung für die weiteren sozialen und politischen Kämpfe in Armenien. Es wird an zivilgesellschaftlichen Bewegungen liegen, weiterhin eine demokratische und inklusive Gesellschaft einzufordern und dem vermeintlichen Ausnahmezustand der letzten Wochen zur Normalität zu verhelfen.