MALMOE

Abstrakte Wesen hinterm ­Eisernen Vorhang

Masha Neufeld und Katharina Wiedlack im MALMOE-Gespräch über vielfältige politische Strategien russischer LGBTs, das Dilemma der (Un)Sichtbarkeit und warum Solidarität Reflexion braucht

In Österreich gibt es eine verstärkte Aufmerksamkeit für Russland und die Situation von LGBTs. Einerseits greifen Politiker_innen aller Couleur das Thema gerne auf, wenn es darum geht, die Überlegenheit des Westens unter Beweis zu stellen. Andererseits ist Homophobie in Russland natürlich auch ein Thema in der österreichischen LGBT Community. Kampagnen wie To Russia With Love (TRWL) organisieren Demos, produzieren Infomaterial und machen öffentlich auf fehlende Rechte aufmerksam. Im Interview mit MALMOE erklären die beiden Aktivistinnen Katharina Wiedlack und Masha Neufeld (1) was sie an solchen Kampagnen schwierig finden und warum Solidarität einfacher klingt als sie ist.

Was genau ist eure Kritik an der Art und Weise, wie in Teilen der österreichischen LGBT Community das Thema LGBT-Rechte in Russland aufgegriffen wird?

Neufeld: Da kommen einige Sachen zusammen. Nehmen wir zum Beispiel die TRWL-Kampagne, die von einem sehr breiten Bündnis getragen wird. Da gehen Leute auf die Straße in Solidarität mit einer sehr abstrakten Vorstellung von Menschen auf der anderen Seite des im Kopf noch existenten Eisernen Vorhanges; aber um die konkreten Leute, die russischen LGBTs, von denen nebenbei auch einige in Wien leben, um die geht es nicht wirklich. Meine Freundinnen und ich waren auf diesen Demos die einzigen russischsprachigen Menschen. Und es wurde nie der Dialog gesucht mit uns, gefragt, ob wir bei der Kampagne dabei sind, oder unsere Expertise über Russland angefragt.

Ich habe mir die Kampagne sehr genau angesehen, und würde sagen, dass es in erster Linie darum geht, die österreichische Gesellschaft als überlegen und post-homophob darzustellen. Und Russland wird als Anlass benutzt, um sich abzugrenzen und möglichst viele Gruppen an einen Tisch zu bekommen, die sonst kaum miteinander kooperieren. Aber bei Russland, da sind sich alle unglaublich einig. Iver B. Neumann nennt das „Uses of the Other“ (2). Hier wird ein ganz alter Diskurs vom erhellten Westen und dem rückständigen Russland herangezogen, um sich selbst zu konstituieren.

Gibt es generell keine Bereitschaft institutionalisierter LGBT Organisationen, sich mit Betroffenen vor Ort, mit denen man sich ja solidarisch zeigen will, auszutauschen?

Wiedlack: Wir hatten den Eindruck, dass zwar mit LGBT Aktivist_innen aus Russland gesprochen wurde, aber eben nur mit sehr handverlesenen Leuten. Nämlich jenen, die genau das sagen, was man in Österreich hören will. Und Leute, die diesen Sichtbarkeitsdiskursen und z.B. Straßenprotesten eher kritisch gegenüberstehen oder das kontraproduktiv finden, wollten sie nicht hören.

Das Problem dahinter ist, dass Kampagnen wie TRWL sich gar nicht die Mühe gemacht haben, einen Überblick zu bekommen, was es an LGBT Aktivismus in Russland gibt und wie man diesen unterstützen könnte. Klar, das bräuchte Zeit, die oft nicht da ist, aber man müsste es trotzdem tun.

Neufeld: Und das hat meiner Meinung nach Systemcharakter: Es werden bestimmte LGBT Akteur_innen in Russland herausgepickt und unterstützt, die dann als repräsentativ für die LGBT Community in Russland gelten, was so gar nicht stimmt. Und das ist vor allem deshalb schwierig, weil das oft NGOs sind, in erster Linie schwule Aktivsten, die eine ganz bestimmte Politik vertreten. Und wenn du die dann als stellvertretend für die ganze russische Community hernimmst, dann kommt heraus was du dir zuvor eh schon gedacht hast.

Weil sie das Bild des liberalen Westens und des rückständigen Russlands wiedergeben?

Neufeld: Richtig. Und genau diese russischen LGBT NGOs bekommen auch Geld von westlichen Sponsoren. Und die wissen dann auch, welches Narrativ sie auffahren und was sie sagen müssen, um an dieses Geld zu kommen. Und das ist das westliche Bewegungsnarrativ: dass wir auf die Straße müssen, sichtbar sein, Gay Prides organisieren, politische Rechte für gleichgeschlechtliche Ehe und Adoption erkämpfen müssen, und dann haben wir Gleichheit. Wie im Westen.

Das Problem dabei ist, dass dieses Narrativ aber nicht einfach überall drüber gestülpt werden kann und es auch andere, weniger sichtbare und kritischere, Strategien von LGBTs gibt. Diese LGBTs bleiben dann außen vor und werden nicht als solidarisierungswürdige Subjekte wahrgenommen.

Nicht nur in Russland, generell sind meist schwule Männer die sichtbarsten Repräsentanten und Sprecher der jeweiligen LGBT Communities. Wohl weil sie als Männer in patriarchalen Gesellschaften generell mehr Öffentlichkeit bekommen, ökonomisch besser dastehen und ihre Lebensrealitäten entsprechend sichtbarer werden. Welche anderen Strategien haben lesbische Frauen in Russland?

Neufeld: Unsichtbarkeit ist für Lesben eine Überlebensstrategie in homophoben Räumen. Die Strategie der politischen Sichtbarkeit, der politischen Identität, die dann oft physische – sichtbare – Gewalt zur Folge hat, trifft vor allem auf Schwule zu, auf schwulen Aktivismus, und weniger auf jenen aller anderen. Lesben und Transgender werden deshalb nicht weniger verfolgt, aber sie wählen andere Strategien, und diese haben andere Konsequenzen. Die sind weniger offensichtlich, weniger sichtbar, und die Gewalt ist subtiler. Das Problem aber ist, dass die Sichtbarkeit – als queere Person in der Öffentlichkeit, aber auch der Gewalt gegen dich – oft zur Bedingung für westliche Solidarität herangezogen wird – und als einziger Nachweis für die persönliche Verfolgung und damit die Gewährung von Asyl ist (–> Mehr dazu im Teil III dieses Schwerpunktes in MALMOE 83). Lesben wird oft gesagt: „Wie kannst du lesbisch sein? Du warst verheiratet!“ Aber Lesben einer bestimmten Generation waren fast alle verheiratet, weil es anders – für Frauen – gar nicht ging. Diese Realität wird einfach ignoriert.

Aber auch heute, in krassen Situationen wie in Tschetschenien, ist das Beste, was dir als Lesbe passieren kann, eine arrangierte Ehe mit einem Schwulen, wo sich die Familien einigen können und der Schein gewahrt bleibt. Gerade im postsowjetischen Raum kann man vieles nicht auf die Frage der Sichtbarkeit rückführen, die Leute finden sich andere politische und persönliche Wege, wie sie sich artikulieren und (über)leben.

Wie sieht es dann mit dem Geschlechterverhältnis in der russischen LGBT Szene aus?

Wiedlack: Oft ist es so, wie überall, dass Lesben im Hintergrund die Männer unterstützen. Weil auch sie das Narrativ glauben, dass nur wer als LGBT öffentlich sichtbar ist und physische Gewalt erfahren hat, das ideale – und einzige – Subjekt für Support ist. Und damit will ich überhaupt nicht sagen, dass schwule Männer nicht Unterstützung brauchen. Aber die Lesben in Hintergrund, denen immer gesagt wird, dass es ihnen „eh viel besser geht“, die würden das vielleicht genauso brauchen. Und das hat auch damit zu tun, wer überhaupt ein Coming Out machen will und kann. Also auch innerhalb von Russlands LGBT Community gibt es all diese Unterschiede.

Neufeld: Und die Frauen, die LGBT Aktivismus machen, Lesben meist, trauen sich Positionen „in der ersten Reihe“ oft gar nicht zu und verstecken ihre Expertise, weil die russische Gesellschaft ist nun mal auch sehr patriarchal und sexistisch. Und zwar viel sexistischer und patriarchaler als sie es vor 20 Jahren war.

Das heißt aber auch, dass die Lebensrealitäten und der Aktivismus von Lesben oftmals gar nicht sichtbar sein können für Außenstehende. Oder müsste man einfach besser hinsehen?

Neufeld: Genau deshalb ist es so wichtig, die Migrant_innen aus Russland, die in Österreich leben, ins Boot zu holen. Weil sie sind die Expert_innen für ihre Lebensrealität und sie können auch für sich selbst sprechen. Und sie können auf Sachen aufmerksam machen, die sonst vielleicht nicht sichtbar werden und damit auch gar nicht als Problem erscheinen.

Wenn du nämlich aus einer Gesellschaft kommst, zum Beispiel Österreich, wo es ein ganz bestimmtes LGBT Narrativ gibt, wo Rechte erkämpft wurden, wo es NGOs gibt, die genau auf dieser Ebene der politischen Sichtbarkeit funktionieren und die eine ganz bestimmte Taktik und Strategie haben, wie man sich Rechte erkämpft, und wenn du dann mit diesem Blick den postsowjetischen Raum anschaust, der ja auch nicht homogen ist, dann wird es schwierig und es wird ein sehr verzerrtes Bild herauskommen, das nicht unbedingt viel über diesem Raum aussagt. Und genau das versuchen wir aktivistisch und wissenschaftlich zu problematisieren.

Wiedlack: Und uns geht es auch darum, wie LGBT Aktivist_innen des Westens ihre eigene Geschichte erzählen – das ist oft sehr naiv. Ja klar gab es ein Umdenken in der Gesellschaft, welches durch politische Kämpfe um Sichtbarkeit und Anerkennung erreicht werden konnte, aber es gab beispielsweise auch ein großes ökonomisches Interesse an der Inklusion von – bestimmten – LGBTs. Und das war wesentlich, damit die politischen Forderungen erfolgreich sein konnten. Auch das muss man komplexer sehen.

Ihr habt erwähnt, dass solch ein Aktivismus, wie ihn z.B. TRWL betreibt, auch kontraproduktiv sein kann. Wie meint ihr das?

Wiedlack: Gerade im Fall von Tschetschenien bin ich mir nicht sicher, ob nicht gerade die Form der Demonstration selbst ein Problem ist. Weil es nicht immer eine Hilfe ist, etwas sichtbar zu machen. Ich verstehe natürlich die Empörung und auch das Bedürfnis auf die Straße gehen zu wollen. Aber wir müssen uns überlegen, ob die Strategien, die für Stonewall gut waren, oder es in Wien oder Amsterdam sind, öffentliche Proteste und ziviler Ungehorsam, ob das die richtige politische Strategie für ALLE Probleme immer und überall ist. Und im Fall von Tschetschenien ist sie es denk ich nicht. Weil sie Aufmerksamkeit und damit Gewalt auf eine Gruppe von Leuten lenkt. Es gibt eine große tschetschenische Community in Österreich, die nicht unbedingt weniger homophob ist als der tschetschenische Staat. Und tschetschenische geflüchtete LGBTs könnten ganz konkret verstärkt gefährdet sind.

Neufeld: Deshalb spreche ich von politischer und persönlicher Sichtbarkeit, und dass man das manchmal trennen muss. Es ist total wichtig, bestimmte politische Forderungen, sei es nach Menschenrechten oder was auch immer, sichtbar zu machen. Gleichzeitig gibt es extrem vulnerable (Anm. verletzliche) Subjekte. Und einerseits will und kann ich nicht für diese Leute sprechen, gleichzeitig verstehe ich auch die Gefahr, wenn diese Leute sichtbar werden, die dazu führt, dass sie eben nicht öffentlich für sich selbst eintreten können. Das ist ein ethisches Dilemma.

Wenn es bei vielen Soli-Kampagnen in erster Linie darum geht, dass sich die westlichen LGBT Gruppen selbst darstellen, ist Russland ja nur ein Anlass und austauschbar. Wäre es tatsächlich dasselbe, sich in Österreich mit der LGBT Community in Uganda und gegen den ugandischen Staat zu engagieren, oder ist Russland nicht doch ein besonders beliebtes Feindbild in Österreich?

Wiedlack: Ja und nein. Also es ist in dem Sinn austauschbar, als dass diese Art der LGBT-Solidarität nichts Russland-spezifisches ist. Aber Russland als Land, dass immer als Gefahr für den Westen wahrgenommen wurde, funktioniert natürlich besonders gut. Und deshalb wird auch die LGBT Community so instrumentalisiert von Vielen: „Schaut her, auch die LGBTs in Russland stehen für die westlichen Werte und sind so europäisch, wie wir!“ Und damit sagt man auch implizit, wie gut wir im Westen sind und dass alle so sein wollen wie wir. Sowas funktioniert immer gut in bestimmten Momenten – und große Sportevents wie die WM in Russland 2018 sind gute Zeitpunkte, um das zum Thema zu machen. Gleichzeitig können solche Momente natürlich auch von LGBTs genutzt werden, um auf homophobe Zustände aufmerksam zu machen.

Wir haben jetzt viel über Fallen der Solidarität geredet – aber die Idee der Solidarität geben wir ja nicht auf. Was braucht es für eine Solidarität, die Machtverhältnisse nicht reproduziert?

Neufeld: Es gibt keine Erfolgsrezepte für Solidarität – das, was heute gut funktioniert, kann morgen auch falsch sein. Und ich will diesen Aktivismus, den ich kritisiere, nicht wegwischen. Es ist wichtig was zu tun. Was in Russland passiert ist schrecklich. Aber wenn du solidarisch sein willst, solltest du die eigene Position und die eigene Rolle hinterfragen. Warum mache ich das überhaupt? Geht es da um mich – oder wirklich die Subjekte meiner Solidarität. Wann spreche ich für mich? Wann für wen anderen? Und wann ist es vielleicht besser zu schweigen. Es muss eine Bereitschaft geben, das eigene Ego, die eigene Position ein bisschen runter zu schlucken.

Und du solltest dir die Mühe machen zu verstehen, in welches Feld du dich begibst, weil es ist sehr wichtig, die weniger privilegierten Leute auszumachen und auf sie zu hören, und nicht immer nur auf die, die am lautesten rufen (können) und die du auf den ersten Blick siehst. Und auch wenn du nicht mit der Meinung einer Person einverstanden bist, solltest du nicht versuchen, über sie drüber und für sie zu sprechen, sondern ihre Stimme verstärken. Ich weiß, dass das sehr schwierig ist. Aber ich weiß, dass das funktioniert.

Wiedlack: Solidarität ist wichtig. Ich denke vor allem über die Formen nach. Ich komme immer mehr von diesen öffentlichen sichtbaren Diskursen, diesen spektakulären Aktionen, weg. Und finde eine stillere Form der Solidarität, die viel mehr in den Alltag hineingeht, sinnvoller. Aber es ist schwer, weil Anerkennung zum Beispiel bekommst du meist nur für große Aktionen. Aber manchmal ist es nicht richtig, sichtbar zu sein, sondern kleine Gesten und Hilfsleistungen sind wichtiger. Und meinen Fame muss ich mir eben wo anders holen

(1) 
Masha Neufeld und Katharina Wiedlack haben gemeinsam mit anderen im September die Konferenz „Fucking Solidarity: queering concepts on/from a Post-Soviet perspective“ organisiert. Als queer-feministische Aktivist_innen beschäftigen sich beide schon lange mit Russland und dem postsowjetischen Raum. Wiedlack forscht im Rahmen eines FWF-Projektes zu Russlandbildern in US-Medien, Neufeld forscht in dem Bereich Global Health Studies zu und in Russland.

(2) 
Iver B. Neumann: Uses of the Other: “The East” in European Identity Formation, University of Minnesota Press, 1999