MALMOE

„Care aus dem Register 
des Moralischen herausziehen“

Emma Dowling im Gespräch über „The Care Crisis“

Mitten in der Covid-19-Pandemie, als in vielen Ländern die Folgen des neoliberalen Kaputtsparens im Gesundheitswesen und der Privatisierung einst öffentlicher Dienste evident wurden, wartete der Verso Verlag mit einem passenden neuen Titel auf: The Care Crisis. What Caused It and How Can We End It? Autorin ist Emma Dowling, die seit Februar 2020 eine Tenure-Track Professur für Soziologie sozialen Wandels an der Universität Wien innehat. Tyna Fritschy hat sich für MALMOE mit Emma Dowling über Care als moralischen Appell, den Imperativ der Selbstsorge und die Vergesellschaftung von Sorgearbeit unterhalten.

MALMOE: Die Forschung zu deinem Buch The Care Crisis ist in Großbritannien entstanden. Lassen sich die Befunde daraus auch in den österreichischen Kontext übersetzen? Der neoliberale Abbau des Wohlfahrtsstaates ist in Großbritannien ja viel weiter vorangeschritten als in Österreich. Zudem ist der Arbeitnehmer*innenschutz in Österreich ungleich stärker. Wie wirken sich diese Differenzen auf die Care-Krise aus?

Emma Dowling: In der Tat geht es in meinem Buch um die Spezifika der neoliberalen Care-Krise in Großbritannien. Die Übersetzungsschwierigkeiten fangen beim Begrifflichen an. Ich benutze bevorzugt den englischen Begriff ‚Care‘, weil er sowohl Pflege im engeren Sinn als auch Sorge im weiteren Sinn bezeichnet. Der Kontext ist dann für viele Länder der gleiche: Ich lege den Fokus vor allem auf die Jahre nach der globalen Finanzkrise von 2008. In Großbritannien hat sich die Care-Krise durch Austeritätspolitik, Arbeitsmarktderegulierung und fortschreitende Ausrichtung der britischen Wirtschaft auf den Finanzsektor besonders zugespitzt. Schätzungen zufolge bekommen hier 1,4 Million ältere Menschen nicht die Pflege, die sie benötigen würden. Dazu kommen Arbeitsmarktderegulierungen. Die Privatisierung des öffentlichen Sektors (inklusive der Pflege) ist sehr weit vorangetrieben worden. Vielfach bedeutet das, dass sowieso schon knappe Ressourcen in der Form von Profiten aus dem Sektor abgezogen werden.
Dennoch ist es so, dass sich Menschen um einander kümmern. Deswegen gehe ich im Buch der Frage nach, wer diese Care-Arbeiten und vor allem unter welchen Bedingungen macht. Vielfach kompensieren Pflegekräfte oder auch Sozialarbeiter*innen durch Überstunden, dass Ressourcen fehlen. Da, wo sich Haushalte keine teuren Dienstleistungen kaufen können, fällt immer mehr unbezahlte Arbeit für sie an. In Österreich hat es nicht dieselbe dramatische Kürzungspolitik wie in Großbritannien gegeben und die Daseinsvorsorge ist noch in größerem Maß in öffentlicher Hand. Auch sind Sozialversicherungssysteme anders organisiert. Aber auch in Österreich gibt es Druck auf öffentliche Kassen, und die Interessen von Anlage-suchendem Kapital im Bereich sozialer Infrastrukturen könnten in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Auch in Österreich gab es bereits vor der Pandemie belastende Rahmenbedingungen in der stationären und mobilen Pflege: zu wenig Personal mit hohen Betreuungsschlüsseln, hoher Arbeits- und Zeitdruck, Einspringen für ausgefallene Kolleg*innen, geringere Bezahlung in der Langzeitpflege als in den Krankenhäusern. Auch in Österreich fühlen sich pflegende Angehörige, von denen die Mehrzahl weiblich ist, überlastet und haben oft Schwierigkeiten Beruf und Betreuung zu vereinbaren. Neben der Geringschätzung von systemerhaltender Arbeit, zu der Pflege- und Sorgetätigkeiten gehören, ist in der Corona-Krise die doppelte Belastung von Frauen im Lockdown vielfach Thema gewesen.

Wo liegen weitere Ähnlichkeiten?

Zu den ähnlichen Entwicklungen gehört der demografische Wandel mit dem damit einhergehenden steigenden Pflegebedarf, der neoliberale Abbau öffentlicher Daseinsvorsorge, die versuchte Kommerzialisierung von Dienstleistungen und das Doppelverdiener-Modell bei tendenziell stagnierenden Reallöhnen, das heißt die Notwendigkeit in Familien, einen hohen Anteil an Zeit mit Erwerbsarbeit zu verbringen. Eine individualisierte Verantwortung für das Sorgen bei gleichzeitiger Indienstnahme von Verantwortung und Mitgefühl hält vielfach existierende tradierte Sorgebeziehungen und die damit einhergehenden Geschlechter- und Klassenverhältnisse aufrecht und vertieft sie sogar.
Ein weiterer Punkt ist in Österreich ähnlich wie in Großbritannien: Während die private Sorgearbeit und öffentliche Daseinsvorsorge unter Druck geraten, kommt der Diskurs der Selbstsorge wieder verstärkt auf, gekoppelt an Konsumangebote und getrieben von Angst und Unsicherheit. Das bringt Menschen eher dazu sich – im wahrsten Sinne des Wortes – um sich selbst Sorgen zu machen (wenn sie es sich leisten können), als tatsächlich etwas an den strukturellen Missständen zu ändern.

Care ist das feministische Schlagwort der Stunde. In den letzten Jahren gab es einen regelrechten Boom von Workshops, Calls, Konferenzen, Publikationen und Themenschwerpunkten rund um Care. Wie ordnest du dieses Phänomen ein? Handelt es sich dabei um die dringend notwendige gesellschaftliche Verhandlung der von dir diagnostizierten Care-Krise? Oder füttert es auch das Phantasma, dass es ein Außerhalb von kapitalistischen Beziehungen geben kann, und schwächt womöglich die anti-kapitalistische Kritik?

Das ist eine wichtige Beobachtung, die zu genauerem Hinschauen anregt. Ich würde schon sagen, dass Care als Mode-Begriff damit zu tun hat, dass der neoliberale Kapitalismus uns immer mehr die Lebensgrundlage entzieht und vor allem, dass der Reproduktionsdeal seitens des Kapitals aufgekündigt wurde. Das Kapital sieht sich immer weniger in der Pflicht zur Reproduktion im nationalstaatlichen Rahmen beizutragen. Deswegen wird es zunehmend notwendig, sich in den Bereichen von Care und der sozialen Reproduktion zu organisieren und Aktionsformen zwischen Selbsthilfe und Widerstand zu finden. Aber gleichzeitig gibt es die Tendenz, Care immer mehr auf einen moralischen Appell zu reduzieren, oder als Prinzip individuellen Handelns zu feiern – gegen die Imperative des Wettbewerbs und der Sicherung des eigenen Vorteils. Es ist ja gar nicht so, dass der Kapitalismus strukturell „sorglos“ im moralischen Sinne ist, sondern im Kapitalismus werden sorgende Beziehungen in Dienst genommen. Deswegen ist es so wichtig Care aus dem Register des Moralischen heraus zu ziehen und immer wieder darauf hinzuweisen, dass Care nicht gleichzusetzen ist mit bestimmten Affekten wie Empathie oder Fürsorglichkeit. Auch ist es notwendig, die strukturellen Bedingungen für Care zu ändern. Und es braucht auch freie Zeit außerhalb von Sorgetätigkeiten.

Du schreibst, dass die Kernfamilie – trotz gewisser Aufweichungen, die sich in den letzten Dekaden zweifellos konstatieren lassen – die Grundeinheit der informellen Care-Arbeit bleibt. Eine Kritik an den Verhältnissen im Care-Sektor muss also eine queere Kritik miteinschließen. Eine Frage, die mich in dem Kontext immer wieder umtreibt, ist, ob nicht auch der umgekehrte Schluss zulässig ist: Weil die Care-Bedürfnisse gesellschaftlich nicht gedeckt werden und es manifeste Care-Defizite gibt, hält sich das Modell der hetero- und homonormativen Kernfamilie so gut. Ich staune immer wieder, wie wichtig die familiären Beziehungen sind, wenn es um die Pflege von Alten geht. Da entsteht der Eindruck, dass ein würdiges Leben im hohen Alter nur mit der sorgenden Zuwendung der direkten Nachkommen möglich ist.

Es ist tatsächlich erstaunlich, wie fest verankert das Sorge-Modell der Kernfamilie zu sein scheint. Es sei denn, jemand setzt auf Marktbeziehungen, um sich davon frei zu kaufen. Woran liegt das? Ich glaube, es hat mit dominanten Praktiken der Verbindlichkeit zu tun und den damit einhergehenden Affekten. Wenn es darum geht, sich jemandem über einen längeren Zeitraum hinweg wirklich verbunden zu fühlen und wirklich darauf zu vertrauen, dass sie für einen da ist oder dass ihr die Verantwortung für Care zugemutet werden kann, dann trumpft immer wieder die Familie. Das kann ja auch neurotische und dysfunktionale Züge annehmen, wenn wir bedenken, wie viel hier Verantwortungsgefühle mit negativen Affekten wie Schuld oder moralischem Zwang zu tun haben. Viele denken, sie können Sorge- und Pflegetätigkeiten – die ja wirklich nicht immer angenehmen sind bzw. auch sehr aufwendig sein können – nur Familienmitgliedern zumuten. Hier wäre ganz wichtig, neue Verbindlichkeiten zu schaffen. Es braucht ein Äquivalent für das, was in unserer Gesellschaft die Kombination aus moralischem Zwang und ökonomische Wechselabhängigkeit leistet. Als Basis für offenere und freundlichere Versionen lässt sich z.B. an mehrgenerationales Zusammenleben oder auch Arbeits- und politische Projekte denken, die gleichzeitig Lebensgemeinschaften einschließen.

Ein Stichwort, das ich gerne aufgreife, ist der Imperativ der individuellen Selbstsorge, der sich in sehr unterschiedlichen Sprachen artikuliert: Am einen Ende des Spektrums kleiden sich marktfömige Konsumangebote in neoliberale Optimierungsrhetoriken, am anderen Ende des Spektrums ist die Zuwendung zu Praktiken der Selbstsorge in Communities von PoCs und Queers zu beobachten, mitunter inspiriert von Audre Lordes Ausspruch „self-care as political warfare“. Gibt es eine geteilte Grundlage und eine geteilte Problematisierung dieser sehr unterschiedlichen Praktiken unter dem Zeichen von „self-care“?

So wie ich Audre Lorde verstehe, ging es ihr darum, dass sich gerade Menschen, deren Leben für die Mehrheitsgesellschaft als nicht lebenswert galten, individuell und kollektiv Selbstsorge organisieren. In erster Linie ging es um das Überleben. Es ging aber auch um ein Leben in Würde, um das Zurückdrängen internalisierter Unterdrückung und um die Wertschätzung seiner selbst in einer Gesellschaft, die einen strukturell und systematisch abwertet. Außerdem ging es darum anzuerkennen, dass auch Aktivistinnen nicht unendliche Kapazitäten haben und für sich selbst sorgen müssen, um nicht auszubrennen. In gewissem Maße leben wir nun in einer Zeit, in der uns ständig suggeriert wird, dass wir nicht genug sind und besser sein sollen. Dagegen anzuarbeiten, auch individuell, ist durchaus wichtig. Aber, was in den neoliberalen Selbstsorgeangeboten wegfällt sind Machtgefälle, Ungleichheiten und die Unterdrückungsverhältnisse, die manche Leben lebenswert erscheinen lassen und andere nicht.

Von der Individualisierung zur Kollektivierung von Sorge: Du diskutierst in The Care Crisis auch Ansätze der Vergesellschaftung von Care-Arbeit. Wie könnte sich eine solche Commonisierung von Care ausgestalten?

Zuallererst brauchen wir mehr freie Zeit. Das heißt, wir müssen weniger Erwerbsarbeit machen. Sicherlich braucht es ein Aufbrechen der traditionellen Familienstrukturen hinsichtlich der Verantwortung für Care und die Erweiterung verbindlicher und verbindender Sorgebeziehungen über die Familie hinaus. Ein wichtiger Diskussionspunkt für die Linke ist, ob es jenseits der nachbarschaftlichen, intergenerationellen, freundschaftlichen, selbstorganisierten Sorgebeziehungen auch so etwas wie öffentlich garantierte Sorgeansprüche und Rechte braucht, inklusive des dafür zuständigen bezahlten Personals. Das Dilemma ist klar: auf der einen Seiten droht bürokratische Erstarrung und Verwaltungslogik, auf der anderen der Egoismus privilegierter Subkulturen oder die Zunahme von Armutsökonomien und notdürftiger Selbsthilfe. Hier ist unsere Kreativität gefragt, um stattdessen das Gute an beiden Ansätzen zusammenzubringen.

Emma Dowling (2021): The Care Crisis. What Caused It and How Can We End It? Verso Verlag, London.